Sag das doch deinen Freunden!
Lieber Kian. In deinem Artikel «Kiffen ist spiessig, deshalb müssten Kiffer gegen die Cannabis-Legalisierung sein», versenkst du die Kiffer zusammen mit den Tätowierten, den Motorradfahrern und den Heavy-Metal-Fans in der Spiesser-Ecke:
Als ehemaliger Kiffer und tätowierter Motorradfahrer (ja, Büne, auch die Unterarme), der sich hin und wieder Heavy Metal gönnt, fühle ich mich natürlich ertappt.
Und ich muss gestehen: Die Liste meiner Spiesser-Sünden reicht schier ins Unendliche weiter: Ich schaue zum Beispiel, dass ich nicht zu viel Fleisch esse, nach Alkoholexzessen gibt's gerne Mal eine Woche alkfrei, ich fahre einen Volvo und – jetzt kommt's – ich hatte sogar mal einen Ohrring. Jesus Maria. Einen Ohrring!
Die einzige Spiesser-Sünde, die ich in meinem Leben ausgelassen habe, ist die Freitag-Tasche. Aber vielleicht kommt die ja noch.
Wieso ich so freimütig zugebe, dass ich ein Spiesser bin? Der Grund ist der Wertewandel der Schweizer Gesellschaft.
Vor 30 Jahren präsentierte sich die Schweiz noch um Welten homogener, bös gesagt uniformer. Wer ein Sexheftli besass, war ein Grüsel, Dienstverweigerer wurden geächtet und für die Kinder unverheirateter Paare wurden vorsorglich schon mal Plätze in der Sonderklasse reserviert.
Das gesellschaftliche Credo in der Schweiz lautete:
Vor 30 Jahren herrschte in der Schweiz Konformität um der Konformität willen. Der meist genannte Unterlassungsgrund – man konnte noch so gute Gegenargumente liefern – lautete: Man tut das nicht, weil man es nicht tut. Basta! In einer solchen Gesellschaft würde ich mich schämen, Spiesser genannt zu werden.
Kian. In deinem Artikel wirfst du Kiffern, Motorradfahrern und Heavys vor, eigentlich Spiesser zu sein. Doch was bedeutet es im Jahre 2016, Spiesser zu sein? Und was muss man im Jahre 2016 in der Schweiz tun, um nicht spiessig zu sein?
Dank des Aufkommens des oft zu Unrecht gescholtenen Individualismus, der steten Mühlen der Aufklärung und unermüdlicher Pionierarbeit in den verschiedensten Bereichen (siehe Bilder) hat sich die gesellschaftliche Toleranz in den letzten Jahrzehnten vervielfacht. In der Schweiz im Jahre 2016 wird so ziemlich alles toleriert, was keinen Schaden anrichtet. Und – das ist nun die Krux – was von der Gesellschaft ohne Wimpernzucken toleriert wird, ist bieder. Es ist spiessig.
Pornos gucken? Na und? Mit dem schwulen Kollegen essen gehen? Wen interessiert's. Du schaust aufs Kind, während deine Partnerin ihre Karriere pusht? Spiesser. Sich zum dschihadistischen Salafismus bekennen. Okay – das ist unspiessig. Ungeschützter Geschlechtsverkehr in einem prall gefüllten Darkroom – auch recht unspiessig. Beides zusammen – ultra-unspiessig. Aber die beschriebenen Akte – so unspiessig, wie sie sind – sind eben auch reichlich dumm.
Ich will damit nicht sagen, dass in der Schweiz alles in Butter ist und damit die Jugend aus ihrer Verantwortung zur Rebellion nehmen: Wir sind noch immer eine Angstgesellschaft mit einer verknorzten Niederlagenkultur. Unser Verhältnis zu Ausländern und zum Islam ist kompliziert. Ausserdem droht das Joch der Political Correctness und damit noch mehr Humorlosigkeit.
Was ich aber sagen will, ist, dass sich die Schweizer Gesellschaft in den letzten 30 Jahren geöffnet hat, toleranter geworden ist, sich verbessert hat – und mit der Gesellschaft hat sich auch der Spiesser-Begriff gewandelt. Der Forscher und Soziologe Prof. Dr. Klaus Hurrelmann stellt auf Vice.com fest, der Begriff «Spiesser» habe an Sprengkraft verloren. Was früher mal eine Beleidigung war, ist heute ein Eingeständnis. Es ist okay, dass du bist, wie du bist!
Subkulturen sind und waren oft in Sachen Konformismus, was man zu tragen hat, welche Bands man hören und Konzerte man besuchen darf, etc. Sekten nicht unähnlich.