Einer der traurigsten Augenblicke meines Lebens war der Moment, als der knallrote Peugeot meiner Mutter eines Tages nicht mehr in der Einfahrt stand. Alt und nicht mehr brauchbar sei er, hat sie mir damals erzählt – und obwohl ich es verstand, weinte das Herz trotzdem der geliebten Blechkiste hinterher.
Es war nicht bloss ein Auto. Es war das Auto, das uns einst den ganzen Weg von Litauen in die Schweiz begleitet hatte: ein One-Way-Ticket – ohne Weg zurück.
Über 16 Jahre in der Schweiz hinterlassen Spuren. Schöne Spuren. Man gewöhnt sich an die Tatsache, dass der Hausschlüssel bedenkenlos im Briefkasten aufbewahrt wird, an den Schwimmunterricht und das im Auge meiner Grossmutter naive Sicherheitsgefühl, wenn man nachts als Frau angstfrei alleine unterwegs ist. Die Schweiz ist mein Zuhause.
An eine Sache werde ich mich jedoch nie gewöhnen:
Hä? Warum denn nicht?
Die Schweizer Folklore polarisiert: zwischen der liberalen
Moderne und dem konservativen Brauchtum, dem weltoffenen Menschen und
dem spiessigen traditionsorientierten Bünzlischwizer, links und
rechts, Stadt und Land.
Litauen, als das letzte vom Heidentum zum Christentum bekehrte Land Europas, stellt unter Beweis, dass es auch anders geht – dass Folklore und Moderne sich nicht gegenseitig ausschliessen müssen. Woher kommt das?
Der Kampf um den Erhalt der eigenen Kultur war für Litauen schon seit über 1000 Jahren ein Thema, das leider immer wieder aktuell wurde: Während am Ende des 14. Jahrhunderts die Landesgrenzen des damaligen Grossfürstentums sogar bis ans Schwarze Meer reichten, wurden im 19. Jahrhundert unter der Herrschaft des Russischen Kaiserreichs die Litauische Kultur und Sprache gänzlich unterdrückt und verboten.
Verloren und vergessen ging sie trotzdem nicht: Litauisch gilt nach wie vor als älteste Sprache Europas – denn hinter geschlossenen Vorhängen wurde die eigene Kultur selbst unter der grausamsten Besatzungsmacht weiterhin klammheimlich weitergelebt.
Und dieser Mut hat sich ausgezahlt: Naturverbundenheit, traditionelle Landwirtschaft, Volkslieder und Volkstänze, alte Bräuche und Aberglaube sind bis heute in der Gesellschaft stark verwurzelt. Während das Land an Infrastruktur, Technik und Modernität locker mit dem Rest Europas mithalten kann, mischen die an jeder Schule vorhandenen Volksmusikgruppen mit wöchentlichen traditionellen Tanzfesten und ähnlichen Veranstaltungen für die Jugend den modernen Alltag auf.
Es gibt Sommercamps, wo das Leben in freier Natur gelehrt wird, Tänze, um Regen zu beschwören und Volkslieder, die am Lagerfeuer gesungen werden. Die landesweite Organisation «Romuva», die sich den alten heidnisch-litauischen Bräuchen verschrieben hat, gewinnt immer mehr an Zuwachs. Das zeigt sich auch in der litauischen Politik: Die vorherrschende grüne Bauernpartei setzt sich besonders stark für Kultur und die Wiederbelebung von alten Traditionen ein.
Ich bin damit aufgewachsen. Mit langen Abenden am Lagerfeuer und Volksliedern, der Suche nach der Blüte einer Wurmfarne, die der Legende nach nur in der Nacht der Sommersonnenwende blüht und ewige Weisheit verleihen soll (ich habe sie leider noch nicht gefunden), Tänzen und den alten Geschichten meines Grossvaters über Geister und andere Besonderheiten der Natur.
Ich war schon immer ein Stadtkind. Aber die litauische Kultur hat mich gelehrt, auf die Natur zu hören. Das kommende Wetter von den Wolken ablesen zu können. In den Wald gehen und mit einem Korb voller Pilze und Beeren zurückzukommen. Jedes Frühjahr mit Vorfreude auf das erste Donnerwetter zu warten – weil man munkelt, dass sich erst nach dem ersten Donnerschlag die Erde vollständig erwärmt und ohne Rückschläge bereit für den Frühling ist. Und Polka zu tanzen. Ist doch klar.
Litauen lehrte mich, dass Folklore nichts ist, was sich in ländlichen Gegenden oder im konservativen Umfeld von Spiessbürgertum verstecken muss. Im Gegenteil: Tradition und Brauchtum sind – unabhängig von Konfession und politischer Ausrichtung – ein Teil der einzigartigen und individuellen Geschichte und Kultur eines jeden Landes und können uns unendlich viel über das Leben und uns selbst beibringen.
Auch das Schweizer Repertoire an Bräuchen und Tradition muss vor der Macht des Stadtmenschen und der urbanen Kultur nicht kuschen: Mut zur Veränderung, Modernität und Tradition lassen sich vereinen.
So würde ich – aufgewachsen zwischen Regentanz, Heidi und Zürich – auf die Frage nach meinem Musikgeschmack antworten:
Und ihr so?