Auch bei einem Szenario von bis zu 30'000 Grenzübertritten innerhalb weniger Tage soll die Unterbringung und Betreuung der Asylsuchenden sichergestellt werden. «Wir befinden uns heute nicht in einer Notlage», betonte Bundesrätin Simonetta Sommaruga vor der Presse nach dem nationalen Asylgipfel am Donnerstag. Doch die Situation könne sich schnell ändern. Darum präsentierten Bund, Kantone und Gemeinden ihren Asyl-Notfallplan.
Die Befürchtung ist, dass die Schweiz zu einem Flaschenhals der Migrationsbewegung wird. Auf der Balkanroute gibt es für Flüchtlinge kein Durchkommen mehr, Österreich baut an seiner Grenze zu Italien eine 250 Meter lange Barriere und Frankreich könnte, so wie letzten Frühsommer auch schon, seine Grenzen für Flüchtlinge blockieren. Die Südgrenze bei Chiasso würde zum Hotspot.
Das Grenzwachkorps (GWK) habe deshalb «bauliche Verbesserungen am Bahnhof Chiasso» vorgenommen, sagt GWK-Sprecher David Marquis auf Anfrage. Was das genau heisst, sagt er aus taktischen Gründen nicht. So viel ist aber klar: Die Massnahmen sollen der schnelleren Erfassung einer grösseren Zahl an Migranten dienen.
Italien sei eines der letzten Tore nach Europa, hiess es in der Sendung «Arena» am Freitag. SVP-Nationalrat Andreas Glarner sprach von einer «drohenden Invasion», die von Italien über die Schweiz hereinbrechen werde. Tatsächlich deuten die Zahlen des Grenzwachtkorps (GWK) darauf hin, dass seit Beginn des Jahres die Grenze im Tessin wieder wichtiger geworden ist.
Seit der Schliessung der Balkanroute gelangen nur noch wenig Flüchtlinge über die Grenze bei Buchs SG in die Schweiz. Hingegen wurden bis Mitte April rund 1500 rechtswidrige Grenzübertritte in Chiasso festgestellt.
Die Angehaltenen kommen aus Gambia, Nigeria, Marokko und Somalia. Die meisten setzten zuvor mit einem Boot von der nordafrikanischen Küste nach Italien über.
Mit dem Frühling sind es wieder Tausende, die in Ägypten oder Libyen warten und die Überfahrt nach Europa wagen wollen. Die italienische Küstenwache hat seit Anfang Jahr rund 25'000 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet, davon allein vergangenen Montag und Dienstag je 4000.
Bisher kämen rund 25 Prozent mehr Flüchtlinge nach Italien als im selben Zeitraum vor einem Jahr, sagt Flavio Di Giacomo, Sprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Italien. Droht die italienische Insel Lampedusa zum neuen Lesbos zu werden? Wird Sizilien das neue Idomeni?
«Nein», sagt Di Giacomo. Denn der Anstieg der Flüchtlingszahlen habe nichts mit der Schliessung der Balkanroute zu tun. Die Flüchtlinge kämen vor allem aus Ost- und Westafrika. Dass sich die Balkanroute auf das Mittelmeer verlagern wird, bezweifelt er. 60 Prozent der Flüchtlinge, die jetzt in Griechenland feststecken, seien Frauen und Kinder. Für sie sei die lange und gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer ein zu grosses Risiko.
Und mit dem Vormarsch der Terrormiliz Islamischer Staat sei Libyen derzeit für Syrer keine Option. Eher wahrscheinlich sei, dass sie sich neue Fluchtrouten über Osteuropa suchen werden. In Bulgarien und Ungarn sind derzeit neue Trends von Migrationsbewegungen zu beobachten.
Auf die Schweiz hätten diese Routen keine Auswirkungen. Auch die aktuell hohen Zahlen der Flüchtlinge, die in Italien ankommen, seien für die Schweiz nicht relevant, sagt Di Giacomo. «Die Flüchtlinge aus Ost- und Westafrika haben keine Intention weiterzureisen. Sie kommen in Italien an und stellen hier einen Asylantrag.»
Die Einzigen, die von Italien weiter in den Norden wollten, seien Syrer, deren Zielland Deutschland ist, und Eritreer, die eine grosse Diaspora in Schweden haben. «Doch von beiden Nationalitäten gibt es derzeit nur wenige, die in den italienischen Häfen ankommen», so Di Giacomo.
Bundesrätin Sommaruga wollte am Donnerstag keine Einschätzung zu den Entwicklungen der nächsten Wochen abgeben. Sie sagte: «Ob zusätzlich Menschen von der Balkanroute auf das Mittelmeer ausweichen, ist nicht voraussehbar.»
Was ist, wenn sich Di Giacomo täuscht und Italien im Sommer doch zum neuen Griechenland wird? «Wenn eine Million Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Italien flüchtet, dann haben wir primär ein riesiges humanitäres Problem, weil sehr viele Menschen im Meer ertrinken würden.»