Beim Staatssekretariat für Migration (SEM) spricht man von «einer neuen Entwicklung» seit diesem Sommer. Zwischen Juni und August seien bis zu 60 Prozent der Personen, die in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt haben oder eines stellen wollten, abgetaucht.
Das SEM nennt zwei Zahlen. Es gibt Personen, die registriert wurden, aber das Asylverfahren abbrechen und verschwinden. Im Juni und Juli waren es 1700 sogenannte «unkontrollierte Abreisen». Mehr als doppelt so viele wie in derselben Zeitspanne vor einem Jahr. Dann gibt es diejenigen, die verschwinden, bevor sie überhaupt von der Schweizer Behörde registriert worden sind. Sie machen den grösseren Teil der Untergetauchten aus. Da ihre Zahl jedoch schwierig zu dokumentieren ist, kann darüber nur gemutmasst werden.
Martin Reichlin, Sprecher beim SEM, sagt: «Im Juni, Juli und August sind bis zu 40 Prozent noch vor der vollständigen Erfassung des Asylgesuchs wieder verschwunden.» In absoluten Zahlen dürfte es sich bei allen Abgetauchten in den letzten drei Monaten um über 5000 Personen handeln.
Diese Zahl deckt sich ungefähr mit jener der deutschen Grenzwächter. Die Bundespolizei hat dieses Jahr bereits eine rekordhohe Zahl an unerlaubten Einreisen festgestellt. 3400 seien beim Versuch, illegal nach Deutschland einzureisen, erwischt worden. Von Januar bis Mai habe sich die Zahl auf etwa gleichem Niveau wie letztes Jahr bewegt, schreibt die Bundespolizei. Seit Juni sei ein deutlicher Anstieg feststellbar, der sich auch im Juli und August fortgesetzt habe. Die aufgegriffenen Personen kommen vor allem aus Eritrea, Gambia und Äthiopien.
Die an der Nordgrenze festgenommenen Migranten stammen aus denselben Nationen wie jene, die immer noch in Como campieren. Seit bald drei Monaten liefern sie sich mit dem Schweizer Grenzwachtkorps (GWK) ein Katz-und-Maus-Spiel. In Como steigen sie in den Zug ein, in Chiasso werden sie wieder herausgeholt. Allein im August hat das GWK über 6000 illegale Grenzübertritte an der Südgrenze registriert. Laut SEM will nur ein Drittel dieser Personen ein Asylgesuch in der Schweiz stellen. Sprechen die Flüchtlinge den Wunsch nach Asyl aus, bringt sie das GWK in das wenige Meter vom Bahnhof entfernte Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ).
Dieses verfügt jedoch nur über 270 Unterbringungsplätze. Ein Zaun umschliesst das Gebäude von allen Seiten. Securitas-Angestellte patrouillieren. Im Gespräch mit der «Schweiz am Sonntag» erzählt einer von ihnen: «Die meisten Migranten müssen in ein anderes Zentrum gefahren werden, weil bei uns alles voll ist.» Wenn nur einzelne ankämen, drücke man ihnen ein Zugbillett und eine Wegbeschreibung in die Hand. Sie müssten dann selbstständig in eines der Empfangs- und Verfahrenszentren weiterreisen. Die wenigsten kämen jedoch dort an, weil sie unterwegs abtauchten. Der Securitas-Angestellte lacht.
Diese Methode habe sich inzwischen herumgesprochen: Viele Migranten würden bei der Ankunft direkt nach einem Zugbillett nach Deutschland fragen. «Ich muss dann jeweils erklären, dass das eigentlich nicht so gedacht ist», sagt er. Laut SEM-Sprecher Reichlin wurden Massnahmen getroffen, um unkontrollierte Abreisen einzudämmen. «Anstatt die Asylsuchenden im öffentlichen Verkehr reisen zu lassen, werden vermehrt Busse für den Transport zwischen den EVZ organisiert.» In den letzten drei Monaten habe rund die Hälfte der Transporte mit dem öffentlichen Verkehr und die andere Hälfte mit Bussen stattgefunden.
Die Reaktionen aus der Politik auf die hohe Zahl der Untergetauchten lassen nicht lange auf sich warten. Bereits diese Woche forderte die SVP die Schliessung der Grenze. In der «Aargauer Zeitung» sagte CVP-Präsident Gerhard Pfister hingegen, dass sich die Schengen-Staaten auf eine solidarische Verteilung der Flüchtlinge einigen sollten. SP-Nationalrat Cédric Wermuth sieht den Fehler im europäischen Asylsystem, das keine Möglichkeit einer legalen Migration vorsieht.