Einmal im Jahr trifft sich im Radio-Studio Zürich die ganze Deutschschweizer Rap-Szene zu einer Leistungsschau. Cypher nennt sich das, wenn Rapper mit exklusiv geschriebenen Texten um die Gunst des Publikums reimen.
Metaphorisch ausgedrückt, ist das Stelldichein ein landesweiter Genital-Vergleich einer testosterongeladenen Szene. Wer hat den Grössten im ganzen Land? Im letzten Februar war es ein Zahnspange-tragender 16-Jähriger aus Biel.
Pickelig und stimmbrüchig rappte er sich in vier Minuten aus dem Nichts zu einem Internet-Hype. Mittlerweile hat das Video über 100'000 Klicks auf YouTube. Sein Name: Nemo (nein, ist kein Künstlername). Inmitten anerkennend nickender Männer mit Bärten rappte er Zeilen wie «i bi meh als nur startklar / en Platz ide Charts ha / zersch wachse mr Schamhaar.»
Mit der Präzision eines Drum-Computers feuerte er die Silben auf die Beats und wechselte spielend zwischen Gesang und Rap, so nonchalant, dass alle, die ihn hörten, danach zu wissen glaubten: Wir haben ihn gefunden. Nemo – den nächsten Schweizer Rap-Star. Den Nächsten in der Liga Lo & Leduc.
Ein halbes Jahr später sitzt Nemo Mettler, mittlerweile 17, in einem Zürcher In-Restaurant und sieht immer noch sehr jung aus. Nemo hat sich eine Cola bestellt und sagt, als er den Vergleich mit Leduc zum ersten Mal hörte, habe er googeln müssen, welcher von Lo & Leduc nun Leduc sei. Mittlerweile weiss er es, denn Nemo ist beim selben Label untergekommen. Bakara Music, eines der erfolgreichsten Schweizer Labels der letzten Jahre. Label-Chef Martin Geisser hat unter anderem auch Lo & Leduc, Steph La Cheffe und Pablo Nouvelle unter Vertrag.
«Es haben sich viele Labels für mich interessiert», sagt Nemo. Aber irgendwie habe keines gepasst. «Die wollten alle immer, dass ich zu ihnen komme. Nach Zürich oder Luzern oder Bern. Martin ist der Einzige, der nach Biel gereist ist. Das ist irgendwie bezeichnend. Hier kann ich machen, was ich will.»
Was Nemo nicht will: verheizt werden. Erst einmal eine EP mit fünf Songs. Titel «Momänt-Kids». Dann weiterschauen. Das ist nicht mit Halbherzigkeit zu verwechseln. Nemo setzt kompromisslos auf Musik. Vor einem Jahr entschied er sich, eine Woche vor Antritt einer Kochlehre ganz auf die Musik zu setzen. «Ich fühlte mich schlecht dabei, aber mir war plötzlich klar: Lehre und Musik kollidieren.»
Ähnlich genaue Vorstellungen hat er auch von seiner Musik. «Mir gefällt das Poppige.» Ein Satz, den so nicht viele in der Schweizer Raplandschaft formulieren würden, weil Pop in dieser dogmatischen Szene oft mit Verrat an den Idealen des Hip-Hops gleichgesetzt wird.
Seine EP ist denn auch der fröhliche Pop-Rap eines jungen Mannes, der selber sagt: «Rap ist ein Sprachrohr, um darüber zu reden, was nicht gut läuft. Bei mir läuft aber alles gut. Und das hört man wahrscheinlich auch.» Tut man. Textlich taucht Nemo noch nicht in extreme Tiefen. Aber die aufgeweckten Songs lassen erahnen, wie gross die Entwicklungsmöglichkeiten von Nemo noch sind.
Als Vorbild nennt Nemo den US-Rapper Childish Gambino, der auch singt, Comedian ist und gerade das Drehbuch zu einer TV-Serie namens «Atlanta» geschrieben hat, in der er die Hauptrolle spielt. Kein Zufall.
Auch Nemo ist weit mehr als Rapper. Er spielt Geige, Klavier und Schlagzeug, fotografiert und filmt, hat im Musical «Ich war noch niemals in New York» mitgespielt und Praktika bei Radios absolviert. Sämtliche Songs auf seiner EP hat er in den Grundzügen selber produziert.
Mit den Songskizzen führte ihn sein Label zum Hitproduzenten Dodo, und dort wurden die Lieder nochmals poliert. Vielleicht etwas zu stark. Trotzdem bleibt viel Eigenständigkeit erkennbar.
Im Song «Jazz i mir» sprengt Nemo schon jetzt locker Genre-Grenzen. Er hat die Voraussetzungen, ein grenzenloser Künstler zu werden. Nemo Mettler, der in einem kreativen Elternhaus direkt neben dem Bieler Stadttheater aufgewachsen ist und dessen Vaters Vinyl-Sammlung alles «von 80er-Hits über Schlager bis zu Opern» umfasste.
Das Glas Cola vor Nemo ist nun leer. Er beginnt auf dem Stuhl herumzurutschen. Am Abend muss er zum Radio SRF, dort wird er einen seiner neuen Songs selbst am Klavier begleiten, und er weiss noch nicht, dass auch dieses Video auf den sozialen Netzwerken wieder Massen begeistern wird, und deshalb sei er nervös.
Gibt eigentlich keinen Grund dafür.
Nemo – Momänt-Kids. Bakara Music. Ab heute im Handel.