Früher gab es nur zwei Möglichkeiten, sich vor dem Berg zu schützen: Man mied die Gebiete unter den steilen Wänden oder man verbaute sie. Mit Galerien, Dämmen, Steinschlagnetzen. Heute werden die Alpen zusätzlich technisch überwacht, um Gletscherabbrüche, Felsstürze oder Lawinen vorhersehen zu können oder um zumindest die Strasse noch rechtzeitig zu schliessen.
Allein die Firma Geopraevent aus Zürich überwacht laut eigenen Angaben rund 60 heikle Orte in den Bergen. Dank ihren Messgeräten hat man den Gletscherabbruch vom Wochenende am Weissmies bei Saas-Grund rechtzeitig kommen sehen. Eine andere Anlage der Firma hat beim Murgang in Bondo dafür gesorgt, dass auf der Talstrasse unten eine Ampel auf rot gestellt wurde und kein Auto zu Schaden kam.
Die Firma existiert erst seit fünf Jahren. Ihr Hauptgebiet sind am Berg installierte Anlagen in Lawinengebieten, die zu Strassenschliessungen führen, wenn eine Lawine startet. «Wir haben seit 2014 rund 2000 Lawinenabgänge und 100 Steinschläge registriert», sagt Geschäftsführer und Physiker Lorenz Meier. «Nur sind nicht alle so dramatisch wie der Bergsturz in Graubünden und der Gletscherabbruch im Wallis.»
Bei lokalen Messungen in den kritischen Hängen bleiben meist maximal zwei Minuten Reaktionszeit – genug, um eine Strasse zu sperren, aber nicht genug, um Menschen zu evakuieren. Das gelingt nur mit einem teureren Frühwarnsystem: Radaranlagen werden an einem gegenüberliegenden Berg installiert und messen regelmässig die Veränderungen der Topografie am gefährdeten Hang.
Ausgeklügelte Algorithmen können Bewegungen am Berg von jenen eines Helikopters oder einer Gämse unterscheiden, sodass Fehler-Warnungen vermieden werden.
Und dann passiert vielleicht doch jahrelang nichts. So wie am Triftgletscher bei Saas-Grund. Knapp drei Jahre stand der Radar dort, nachdem ein Flugzeug der ETH 2014 auffällige Bewegungen gemessen hatte. Im April dieses Jahres beschloss die Gemeinde deshalb, ihn wieder abzubauen und durch eine günstigere Kamera zu ersetzen, die bei gutem Wetter mit hochaufgelösten Bildern ebenfalls zeigt, ob sich der Gletscher bewegt.
Glaziologe und ETH-Professor Martin Funk, der die Daten von Geopraevent beurteilt, sah im August auf diesen Bildern plötzlich viel schnellere Fliessgeschwindigkeiten des Gletschers, worauf in letzter Minute wieder der Radar installiert wurde. Dieser zeigte, dass die Gletscherzunge tatsächlich kurz vor dem Abbruch stand.
So war nicht nur die Bevölkerung im bewohnten Gebiet eindringlich gewarnt, sondern auch die Bergsteiger. Es befand sich am Sonntagmorgen niemand auf der kritischen Route zum Weissmies, einem beliebten 4000er im Wallis. Im Gebiet am Piz Cengalo war der Zeitpunkt des Bergsturzes ohne Radaranlage nicht so genau vorhersagbar gewesen, sodass acht Wanderer dennoch unterwegs waren und ums Leben kamen. Die allgemeinen Warnschilder hatten sie nicht abgeschreckt.
Doch selbst bei der besten Radaranlage bleibt für die Verantwortlichen eine grosse Unsicherheit: «Man kann nicht voraussagen, wie gross die Abbruchmenge genau sein wird», sagt Meier, «und ob alles aufs Mal kommt oder nicht.»
Die Gemeinden müssen entscheiden, wie viel Sicherheit Sinn macht: In Bondo waren in erster Linie nur Wanderwege gefährdet, in Saas-Grund die Kantonsstrasse und Teile des Dorfs. Die letzten drei Jahre Gletscherüberwachung haben in Saas-Grund laut Gemeindepräsident Bruno Ruppen eine halbe Million Franken gekostet. Die Hälfte übernahm der Kanton, einen kleinen Teil die Betreiber der Gondelbahnen, welche die Sicherheit der Touristen im Gebiet gewährleisten müssen.
Dennoch hat die finanzielle Last offenbar nicht zu grossen Diskussionen geführt. Der Gletscher war zu bedrohlich. Und: «Die Strasse und die Häuser mit baulichen Massnahmen am Berg zu sichern, wäre massiv viel teurer gekommen als die Überwachung und Evakuation», sagt Ruppen. Die günstigere Kamera lässt er jetzt noch ein paar Monate stehen, dann hofft er, bleibt der Gletscher für Jahre ruhig.
(aargauerzeitung.ch)