Gut zwei Jahre nach Aufhebung des Mindestkurses für den Euro von Fr. 1.20 kämpft die Schweizer Industrie noch immer um Marktanteile und um den Erhalt von Arbeitsplätzen. Und doch gibt es einen Silberstreifen am Horizont – sozusagen über Bodensee und Rhein: Deutschland boomt. Vergangene Woche veröffentlichte die Eidgenössische Zollverwaltung (EZV) die jüngsten Aussenhandelszahlen (siehe Tabelle «Exporte nach Deutschland»). Daraus geht hervor, dass die Exporte in die EU im April insgesamt stagnierten. Nur Deutschland kaufte kräftig mehr in der Schweiz ein.
Die Deutsche Wirtschaft boomt. Die Schlagzeilen haben damit gedreht: Von Deutschen Arbeitskräften, die die Schweiz überschwemmen, ist nicht mehr die Rede. Jetzt ist es die deutsche Wirtschaft, die Aktien an der Schweizer Börse befeuert – und hier indirekt Arbeitsplätze schafft. Etwa, indem Autobauer Airbags und Gurtstraffer bei der Ems-Chemie kaufen, um nur ein Beispiel zu nennen.
Die Verkäufe nach Europa lahmten (–1 Prozent), nach Grossbritannien und Italien brachen sie gar ein (–11 bzw. –12 Prozent). Nach Deutschland stieg der Export indes um satte sechs Prozent. In Franken ist das ein Plus von 208 Millionen. Damit ist Deutschland der unbestrittene Wachstumstreiber in der Schweizer Exportstatistik. Exportierte die Schweiz nur nach Deutschland, würde aus dem 1 Prozent Minus ein Plus von über 1 Prozent.
Exporte sind für die Schweiz besonders wichtig, sie ist eine ausgesprochen offene Volkswirtschaft. Um das zu sehen, reicht ein Blick auf das Volumen ihrer Exporte: Ihr Wert beträgt rund 60 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP). Die Importe kommen auf rund die Hälfte des BIP. Das ist weit mehr als der OECD-Durchschnitt von 45 Prozent bei den Exporten und 40 Prozent bei den Importen. 60 Prozent aller Schweizer Ausfuhren gelangen dabei in europäische Länder, fast alles davon in die EU – und das meiste nach Deutschland (vgl. Tabelle).
Es wäre eine Illusion zu denken, die Industrie habe den Frankenschock vollkommen abgeschüttelt, nur weil die «Wirtschaftslokomotive Deutschland» wieder zieht: Die Maschinen- und Elektronikindustrie verkaufte im April erneut weniger ins Ausland. Auch die Uhrenindustrie verbuchte einen weiteren Rückgang. Es gab sie aber, die Branchen, die zulegten: So zogen die Metallexporte um 8,8 Prozent an. Textilien, Bekleidung und Schuhe wurden um 18,3 Prozent mehr ausgeführt (diese Zahl dürfte aber durch Retouren an Onlinekleiderhändler im Ausland aufgebläht sein).
Deutschland ist mit einem positiven Saldo zwischen Aus- und Einfuhren von rund 300 Milliarden Dollar Exportweltmeister. Nicht einmal China, das genau wie Deutschland regelmässig wegen seiner Exportschwemme kritisiert wird (etwa von US-Präsident Donald Trump), kommt dagegen an. Die Volksrepublik bringt einen Überschuss von 245 Milliarden Dollar auf die Waage und belegt damit Rang zwei.
Das hat zwei Hauptgründe: «Made in Germany» steht für Qualität – man muss nur an die Autoindustrie denken. Hierin konkurrenziert es das «Made in Switzerland». Dazu kommt aber ein Vorteil, um den Schweizer Exporteure ihre Kollegen jenseits des Rheins beneiden dürften: eine relativ schwache Währung. Sogar für die Schweiz, die in fast jeder Branche einen Weltmarktführer hat, ist es da schwer, wettbewerbsfähig zu sein. Ihre Aussenhandelsbilanz zu Deutschland ist denn auch in den meisten Branchen negativ, wie die grosse Tabelle zeigt.
Dennoch hat auch die Schweiz Branchen, in denen mehr nach Deutschland aus- als von dort eingeführt wird. Schweizer Exportschlager nach Deutschland sind etwa chemisch-pharmazeutische Produkte sowie Präzisionsinstrumente, Uhren und Bijouterie. Hier schlägt die Schweiz den Exportweltmeister. Dagegen überwiegen die Importe bei Energieträgern, Landwirtschaft und Fischerei sowie bei Fahrzeugen. Bei Maschinen ist der Saldo so gut wie ausgeglichen.
Der deutsche Erfolg dank schwachem Euro, etwa in den USA, hilft aber auch der Schweiz. Denn die hiesigen Zulieferer, etwa für die deutsche Automobilindustrie, erhalten so mehr Aufträge
Deutschland allein zieht mehr Schweizer Exporte an als die USA, mehr als Italien und Frankreich zusammen – und mehr als das Dreifache von China. Ein Wegfall dieser Zugkraft träfe die Schweizer Wirtschaft hart. Christian Hepenstrick von der Schweizerischen Nationalbank (SNB) hat dazu ein Gedankenexperiment gemacht: Käme der Handel mit Deutschland zum Erliegen, wäre das Einkommen der ganzen Schweiz 3 Prozent tiefer. Für alle anderen wichtigen Handelspartner wie die USA, China, Frankreich und Italien liegt dieser Wert unter 1 Prozent.