Frau Häusermann, Sie sind 40 Jahre alt. Glauben Sie, dass Sie im Alter eine Rente bekommen werden, die zum Leben reicht?
Silja Häusermann: Ja, das glaube ich. Wahrscheinlich wird meine Rente weniger grosszügig ausfallen als jene der heute pensionierten Professoren und Professorinnen. Und vielleicht werde ich noch nicht mit 65 pensioniert. Aber die Lebenserwartung meiner Generation ist auch höher als jene meiner Eltern und Grosseltern. Renten, «die zum Leben reichen», sind in erster Linie eine Frage des politischen Willens.
Im September stimmt das Stimmvolk über die Altersreform 2020 ab. Welche Chance geben Sie dem Paket von Bundesrat Alain Berset an der Urne?
Die Reform ist inhaltlich mehrheitsfähig – das haben Befragungen unseres Instituts gezeigt. Allerdings dürfte es nun stark von der Dynamik des Abstimmungskampfs abhängen, ob es für ein Ja an der Urne reicht.
Es gibt viele Kreise, die potenziell gegen die Reform sein könnten: Frauen, weil sie länger arbeiten müssen. Junge, weil sie mehr zahlen müssen. Die heutigen Rentner, weil sie im Gegensatz zu den Neurentnern keinen AHV-Zustupf erhalten. Die Angriffsfläche ist damit doch riesig!
Es stimmt: Bei der Rentenreform müssen alle Bevölkerungsgruppen gewisse Kröten schlucken. Gleichzeitig weist die Vorlage aber auch für alle Gruppen positive Aspekte auf. Frauen müssen zum Beispiel länger arbeiten – Teilzeitarbeitende erhalten aber höhere Pensionskassen-Renten, was wiederum vielen Frauen nützt. Die Abstimmungskampagne wird einen starken Einfluss darauf haben, ob die Stimmbürger unter dem Strich bereit sind, ihre persönliche Kröte zu schlucken.
Für die Jungen geht die Reform ins Geld, das ist ein Fakt. Wird es an der Urne zu einem Kampf der Generationen kommen?
Unsere Erhebungen zeigen, dass die politischen Präferenzen in dieser Frage wichtiger sind als das Alter. Ein junger SP-Wähler wird also eher wie ein alter SP-Wähler stimmen, nicht wie ein junger Bürgerlicher. Ich rechne daher nicht mit einem Generationenkampf an der Urne. Die Jungen haben ja im Vergleich zu den Alten auch länger Zeit, sich auf die neuen Bedingungen einzustellen und für das Alter zu sparen.
Besonders umstritten ist, dass Neurentner mit der Reform 70 Franken mehr AHV erhalten sollen. Ist es nicht widersprüchlich, wenn man Milliarden-Defizite ausbügeln will, und dabei gleichzeitig einen Ausbau beschliesst?
In den letzten zwanzig Jahren sind drei Anläufe, die Altersvorsorge zu reformieren, gescheitert. Die Gemeinsamkeit der drei gescheiterten Vorlagen ist, dass sie versucht haben, die Renten zu kürzen, ohne dies ausreichend zu kompensieren. Nun kann man sicher darüber streiten, ob die 70 Franken der richtige Weg sind, um das Rentenniveau zu halten. Aber letztlich geht es dabei um eine Kompensation der gleichzeitig beschlossenen Kürzungen.
Glauben Sie, dass es gelingen würde, im Falle eines Volks-Neins rasch eine bessere Reform aufzugleisen?
Die Alternativen, die im Parlament besprochen wurden, haben in unseren Umfragen weniger Zustimmung erhalten als die vorliegende Variante. Die Tragik der Rentenreformen ist: Je länger keine mehr durchkommt, desto radikaler muss die nächste sein. Und umso schwieriger wird es dann wiederum, sie an der Urne durchzubringen. Dazu kommt, dass sich der Hauptwiderstand aus der Bevölkerung gemäss den Befragungen vor allem gegen Renten-Kürzungen richtet. Die bürgerlichen Gegner kritisieren jedoch die zu starke Kompensation – sie wollen eine sogenannt «mutigere» Sparvorlage. Das ist für eine künftige Reform eine ziemliche Zwickmühle, weil die Motive vieler Gegner diametral auseinanderliegen.
Bereits jetzt ist klar, dass uns auch ein Ja nur eine kurze Verschnaufpause verschafft. Schon bald braucht es eine nächste Reform. Verstehen Sie jene, die sich darüber ärgern, dass im Schweizer Politsystem keine grossen Würfe möglich sind?
Ja, das verstehe ich, aber es ist ein typisches Merkmal des ausgeglichenen Schweizer Systems, inklusive direkter Demokratie. Aber abgesehen davon: Für eine langfristige Reform ist auch die Ausgangslage zu komplex: Fällt die Zuwanderung tiefer aus als erwartet, wird der Reformbedarf plötzlich grösser und umgekehrt. Auch das Wirtschaftswachstum und das Zinsniveau sind volatil. Es muss möglich sein, auf solche Entwicklungen zu reagieren – darum braucht es zwangsläufig immer neue Reformen.
Gewisse Kreise liebäugeln damit, das Rentenalter zu entpolitisieren. Es soll nicht mehr jedes Mal mühsam ausgehandelt werden, wie lange die Menschen arbeiten müssen. Man könnte die Leute auch einfach dann pensionieren, wenn sie 80 Prozent der Lebenserwartung erreicht haben. Was halten Sie davon?
In Dänemark etwa ist bereits beschlossen, dass das Rentenalter angehoben wird, wenn die durchschnittliche Lebenserwartung steigt. Auch andere europäische Länder machen das so. Ich glaube, dass viele Leute in der Schweiz dieser Logik etwas abgewinnen könnten. Aber es muss natürlich berücksichtigt werden, dass die durchschnittliche Lebenserwartung eben nur ein Durchschnitt ist. Eine Akademikerin tritt später ins Berufsleben ein, leidet weniger unter körperlichen Belastungen und hat eine höhere Lebenserwartung als eine Putzfrau. Ich denke, dass wir diese Diskussionen in den nächsten Jahren führen werden.
Blicken wir noch etwas weiter in die Zukunft, Stichwort Digitalisierung: Was, wenn plötzlich die Roboter einen Teil unserer Arbeit erledigen? Brauchen wir dann ein komplett neues System?
Angenommen, es kommt wirklich so weit, dass die Arbeit nicht mehr von Menschen verrichtet wird: Dann ist ein Sozialstaat, der Leistungen an Erwerbsarbeit knüpft, natürlich überholt. In diesem Fall erhielte wahrscheinlich die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen Auftrieb. Bisher zeigte die Erfahrung jedoch, dass der technologische Fortschritt die Nachfrage nach Arbeit nicht sinken liess. Die Menschen verrichten einfach andere Arbeiten als früher. Ich glaube darum nicht, dass wir das System demnächst ganz auf den Kopf stellen müssen.