Sie
sind Vizepräsident des Thinktanks Foraus. Was für Ziele verfolgt diese
Denkfabrik?
Unser Schwerpunkt ist die Schweizer
Aussenpolitik. Wir befassen uns mit Europa, Menschen und Völkerrecht und
Umweltpolitik. Wichtig ist auch, dass wir eine sehr breite Basis haben. Foraus hat mehr als 1000 Mitglieder.
Sind
das nicht primär Studenten?
Foraus wurde einst von Studenten gegründet, aber heute sind wir weit von einer
Studentenorganisation entfernt. Wir sind gewachsen, haben zwei Geschäftsstellen in Zürich und Genf und an
Professionalität gewonnen.
Sie
sind eine Art Zwillingsorganisation von
«Operation libero».
Die Gründer der Operation libero waren Foraus-Mitglieder. Es gibt zwei wichtige Unterschiede: Foraus
beschränkt sich auf Aussenpolitik und ist nicht wie Libero in der Kampagnnearbeit aktiv. Wir
wollen eine Denkfabrik bleiben und keine Parteipolitik betreiben. Um diese zu promoten arbeiten wir partnerschaftlich mit Libero zusammen.
Früher
waren ausserparlamentarische Bewegungen meist links oder gar marxistisch
unterwegs. Foraus hat sich den Liberalismus auf die Fahnen geschrieben.
Weshalb?
Foraus engagiert sich für eine konstruktive Aussenpolitik. Wir glauben an die internationale Zusammenarbeit, um Herausforderungen zu meistern. Zwei Drittel unserer Bewegung gehören keiner
Partei an. Die Bandbreite derjenigen, die in einer Partei mitmachen, reicht von
SP bis zu BDP. Bei Libero ist das
anders, die sind liberaler. Für mich persönlich ist der Liberalismus ebenfalls
sehr wichtig. Er steht für mich als Gegenbegriff für eine andere Schweiz, für
persönliche Freiheit, aber auch – und das ist der Gegensatz etwa zur FDP – für
Gleichheit. Der Begriff Liberalismus muss heute neu besetzt werden.
Es gibt
bereits mehrere liberale Thinktanks in der Schweiz. Meistens findet man dort
ältere Männer, die von Ludwig von Mises und Friedrich Hayek schwärmen, einen
Nachtwächter-Staat wollen und für tiefere Steuern plädieren. Wie unterscheiden
Sie sich von diesen?
Dieses Verständnis von Liberalismus macht den
Fehler, alles der individuellen Freiheit und dem Markt unterzuordnen. Wir
wollen mehr. Für mich gehört, wie erwähnt, die Gleichheit ebenfalls zum
Liberalismus, genauso wie Verantwortung und Solidarität. Diese zentralen Werte des Liberalismus zusammen zu denken ist sicher nicht einfach – aber es ist die Aufgabe der Liberalen. Und zwar jetzt.
Wir
leben im Zeitalter von Trump und Rechtspopulisten. Stehen Sie mit Ihrem humanistischen Liberalismus nicht auf verlorenem Posten?
Es gibt nach wie vor eine Berechtigung für
einen echten Liberalismus, nicht für einen Neoliberalismus, wo der Markt alles lösen soll. Es braucht heute dringend Kräfte, die in der politischen Mitte progressiv und
konstruktiv wirken.
Doch
auch der politische Liberalismus – Toleranz und Respekt für anders Denkende –
ist derzeit mega-out. Der Trend geht Richtung Nationalismus und
Staatskapitalismus.
Gerade deshalb müssen wir Gas geben. Es gibt viele Leute, die liberal-progressiv denken, und zwar in vielen Parteien von rechten Sozialdemokraten bis linken Freisinnigen. Es braucht jetzt ein kohärentes Programm und eine kohärente Vision für dieses Land. Diese Vision müssen nachher alle liberalen Kräfte tatkräftig mittragen.
In
Ihrem Buch plädieren Sie für eine liberale Migrationspolitik, das wohl
brisanteste Thema der Gegenwart. Wie sieht diese Politik aus?
Wenn uns Freiheit und Gleichheit wichtig sind
– und so steht es in der Verfassung –, dann dürfen diese Werte nicht an der
Grenze aufhören.
Was
heisst das? Offene Grenzen?
Nicht zwingend, wir müssen die Freiheit der Migranten respektieren, aber wir haben ebenfalls
ein Anrecht auf Freiheit. Die Einwohner dieses Landes dürfen zusammen
entscheiden, wohin die Reise führt. Die wohl grösste Herausforderung der
Migrationspolitik ist für mich: Wie können wir eine faire Balance zwischen den
zwei Facetten dieser Freiheit finden?
In den
letzten Jahren hatten wir regelmässig eine Nettozuwanderung zwischen 70'000 und
100'000 Personen. Auf die Dauer ist dies nicht aufrecht zu erhalten.
Migration ist nicht gleich Migration.
Asylbereich und Personenfreizügigkeit sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Im
Asylbereich sind wir gefordert. Das gilt derzeit etwa für Flüchtlinge aus
Syrien, aber auch aus Eritrea. Da können und müssen wir etwas unternehmen. Wir
haben die Mittel dazu, und ich hätte gerne eine Schweiz, die stolz sagen kann:
Wir haben unseren Beitrag geleistet.
Was ist
mit so genannten Wirtschaftsflüchtlingen?
Die Grenzlinie ist sehr schwierig zu ziehen
und dieser Begriff gefährlich. Es sind eben nicht auf der einen Seite die «guten» Flüchtlinge und auf der anderen die «schlechten». Wem wir Asyl geben
wollen ist eine höchst politische Frage. Und die sollten wir uns stellen
können: Welche Gefahrensituationen für die Menschen wollen wir als prioritär
behandeln? Es gibt viele schlimme Situationen auf der Welt, welche ist aber so
dringend, dass wir Asyl gewähren sollten? Die gültige Regelung, dass Asyl nur
für politisch Verfolgte möglich ist, muss deshalb neu überdacht werden. Es gibt
ja auch Menschen, die vor Umweltveränderungen fliehen. Gerade mit dieser
neuen Situation kommen Aufgaben auf uns
zu, welche die Schweiz nicht im Alleingang wird lösen können.
Die
Schweizerinnen und Schweizer, auch die jungen, wollen grossmehrheitlich keinen
Zehn-Millionen-Stadtstaat. Engt das den Spielraum nicht ein?
Im Asylwesen kommen ja nicht die grossen
Massen. Die Mehrheit kommt im Kontext der Personenfreizügigkeit. Moralisch-politisch
gesehen ist dies nicht mit der Asylpolitik zu vergleichen. In Bezug auf die
Personenfreizügigkeit bin ich der Meinung, dass jedes Land das Recht hat, seine
eigenen Interessen zu verfolgen und Limiten zu setzen.
Es ist
also okay, wenn der Staat Obergrenzen oder Kontingente festsetzt?
Obergrenzen sind in der Europapolitik in
erster Linie kein ethisches Problem. Wir müssen aber das politische
Machbare berücksichtigen. Will heissen: Was machen wir, wenn die EU die
bilateralen Verträge aufkündigt?
Abgesehen davon gibt es aber auch ethische
Einschränkungen. Wir können beispielsweise nicht sagen: Wir nehmen nur Weisse
auf aber keine Schwarzen. Oder wir können nicht Muslime grundsätzlich ablehnen.
Das wäre inkonsistent mit den Werten, die wir als grundlegend bezeichnen. Wir
müssen eine Begründungskultur entwickeln und dürfen Migranten an der Grenze
nicht willkürlich zurückweisen.
Was
heisst das konkret?
Zuerst konkret: Migration ist heute für die
Schweiz eine positive Sache. Wir verdienen als Gesellschaft viel daran. Falls
es in der Zukunft anders wäre, dürften wir die Grenze dicht machen, wenn wir
eine plausible Begründung hätten, dass legitime Interessen verletzt werden. Beispielsweise
wenn die Arbeitslosigkeit sehr hoch wäre, wenn die Staatskasse leer wäre, oder
wenn wir keinen Platz mehr hätten.
Das
sind dehnbare Kriterien, um es höflich auszudrücken.
Deshalb müssen wir intern politisch darüber
diskutieren. Aber der ethische Kontext ergibt sich aus den Werten, die wir
selber bestimmt haben. Eine Ablehnung muss auf jeden Fall empirisch gut belegt
und kohärent begründet sein.
Dichtestress
allein genügt nicht?
Nein. New York ist flächenmässig etwa gleich
gross wie der Kanton Freiburg – und hat rund 12 Millionen Einwohner. Es ist
eine politische Frage, aber nicht primär eine Migrationsfrage: welche Schweiz
wollen wir? Wie wollen wir wohnen? Auf wieviele Quadratmeter haben wir Anrecht?
Apropos New York: Analog zur amerikanischen Green Card schlagen Sie eine
schweizerische Red Card vor. Wie soll dies funktionieren?
Diese Red Card wäre für Menschen aus
Drittstaaten gedacht, die nicht unter die Personenfreizügigkeit fallen. Derzeit
haben sie kaum Möglichkeiten, legal in die Schweiz einzuwandern, es sei denn,
sie haben sehr spezielle Fähigkeiten und werden von einem speziellen
Unternehmen wie Google angestellt. Für die anderen Menschen sollten wir legale
Möglichkeiten schaffen. Ein Teil dieser Einwanderung findet statt, egal ob wir
es gut oder schlecht finden. Die Leute befinden sich als Sans Papiers illegal
in der Schweiz. Wichtig dabei: wir alle verlieren daran.
Wie?
Mit jährlichen Verlosungen eines bestimmten Kontingents wie in den USA?
Ich finde das kein sinnvolles System. Man
könnte eine Red Card an die Entwicklungshilfe koppeln und sagen: Wir nehmen
Menschen aus ganz bestimmten Ländern auf und setzten damit eine positive
Entwicklung in Gang. Geld wird zurückgeschickt, Kontakte werden geknüpft,
Kompetenzen werden erworben. Oder wir suchen gezielt nach Branchen, etc.
Wichtig ist, dass wir erkennen, dass wir auf diese Zuwanderer angewiesen sind. Die
Demographie zeigt uns klar: wir werden in Zukunft aktiv Menschen anwerben
müssen.
Sie
sprechen sich dafür aus, dass wir Ausländer viel schneller einbürgern sollten.
Weshalb?
Mir liegt eine pluralistische Gesellschaft
sehr am Herzen. Das hat nicht nur mit der Migration zu tun, sondern mit
Freiheit. Wenn sich die Menschen frei entfalten können, dann entsteht eine
liberale und freie Gesellschaft. Und nicht alle ticken gleich – glücklicherweise.
Multi-kulti
ist heute jedoch eher ein Schimpfwort geworden.
Das bedaure ich. Die Schweiz ist dem Charakter
nach multikulturell. Wir haben verschiedene Sprachen, Religionen. Wir sind eine
Willensnation und hätten damit die besten Karten, Champion in Sachen
Integration und Teilhabe zu werden.
Doch
auch hierzulande spricht man wieder von «Eidgenossen», die keine
«Papierli-Schweizer» sind.
Ich verstehe das nicht, und ich kämpfe dagegen
an. Schweizerin oder Schweizer ist man, weil man mit verschiedenen Menschen
etwas gemeinsam schaffen will. Willensnation eben.
Die
Suche nach Identität und Individualität wird verpönt. Es gehe nicht so sehr
darum, wer welche Toilette aufsuchen dürfe, sondern wie wir wieder Gemeinschaft
stiften können, heisst es. Das verträgt sich schlecht mit multi-kulti.
Wir brauchen einen Diskurs darüber, was uns zu
einer Gemeinschaft macht. Ich will einen Patriotismus der Freiheit. Das heisst:
was die Schweiz zusammen hält, ist das Bewusstsein, dass wir uns gegenseitig
Freiheiten garantieren. Aus diesem Grund sind wir eine Gemeinschaft, eine
Willens-und Freiheitsnation. Das soll gleich Vision des Landes werden.
Tönt
ein bisschen kopflastig.
Wirklich? Ich glaube, die Schweizerinnen und
Schweizer haben sehr viel Verständnis dafür, dass jeder nach seiner Façon leben
darf, und dass genau das uns als Gemeinschaft auszeichnet. Eine homogene
Schweiz, in der alle nach den gleichen Standards leben, wäre für mich ein
Albtraum.