Bürgerliche und
Wirtschaft haben sich gemeinsam für die USR III eingesetzt und klar
verloren. Dies wäre früher undenkbar gewesen. Was ist passiert?
Katja Gentinetta: Mit
der Finanzkrise 2008 und der Abzocker-Debatte ist es zu einem
Bruch gekommen. Der Grundsatz «Was für die Wirtschaft gut ist, ist
für alle gut» gilt so nicht mehr. Man kann nicht mehr
voraussetzen, dass er einfach geglaubt wird. Man muss ihn erklären.
Das
Grundvertrauen gegenüber der Wirtschaft ist verloren gegangen?
Es ist eine grosse
Skepsis vorhanden. Man kann diesen Satz nicht mehr bringen und davon
ausgehen, dass alle ihn einfach glauben und so abstimmen, wie man es
gerne hätte.
Was halten Sie
vom Mittelstands-Argument, das die Gegner ins Zentrum gerückt haben?
Ich frage mich, ob nicht gerade der Mittelstand die Kosten der Ablehnung wird tragen müssen. Wenn die Unternehmen in Sachen Steuerentwicklung eine Unsicherheit empfinden, schlägt sich das auf ihre Bereitschaft nieder, an diesem Standort zu investieren und längerfristig zu bleiben. Das wird die Schweiz möglicherweise zwar indirekter, aber stärker zu spüren bekommen als allfällige Umlagerungen durch die am Sonntag abgelehnte Reform.
Soll das heissen,
dass die Stimmbürger gegen ihre Interessen entschieden haben?
Den Unternehmen ist
klar, dass sie Steuern bezahlen müssen. Diese sollen attraktiv, aber
auch verlässlich sein. Genau das ist nicht mehr gegeben, und das ist
das grösste Risiko dieses Neins.
Dabei beziehen
immer mehr Menschen direkt oder indirekt Geld vom Staat.
Das Verständnis dafür, woher der eigene Lohn und überhaupt unser Wohlstand kommt, ist nicht überall vorhanden. Die Umverteilung durch den Staat sorgt dafür, dass
vieles geglättet wird. Das ist in einem gewissen Mass zwar richtig, geht aber nur, wenn die Steuereinnahmen zuerst erwirtschaftet werden.
Dem Mittelstand
in der Schweiz geht es vergleichsweise gut. Woher kommt dieses
Unbehagen, das sich in einem solchen Abstimmungsergebnis
manifestiert?
Es geht auf die
Abzocker-Debatte zurück, sie ist im Gedächtnis der Leute haften
geblieben. Dann folgte die Finanzkrise und die Tatsache, dass man
eine Bank retten musste. Das war ein Einschnitt in der Wahrnehmung
der Wirtschaft und des Plädoyers für wirtschaftliche Freiheit.
Eine Folge davon
war die Abzocker-Initiative. Ihre Annahme wie auch jene der
Masseneinwanderungs-Initiative haben die Wirtschaft verunsichert.
Wir haben das
Verhältnis der Schweiz zur Europa in ausführlichen Gesprächen mit der Bevölkerung genau
analysiert und dabei festgestellt, dass die Bilateralen eine
Worthülse sind. Man weiss nicht, was genau dahinter steckt. Das
einzige, das die Leute bewusst wahrnehmen, ist die
Zuwanderung. Bei der Unternehmenssteuerreform war es vermutlich ähnlich, das Thema war für viele wenig greifbar.
Gleichzeitig wird
über das angeblich gewachsene Misstrauen gegenüber den
Institutionen geklagt. Wie sehen Sie diesen Aspekt?
Eine Partei
bewirtschaftet dieses Misstrauen seit mehr als 20 Jahren und macht damit
Politik. Die 25 Wirtschaftsführer, mit denen wir für unser Buch «Haben Unternehmen eine Heimat?» gesprochen haben, sehen eine Gefahr in der direkten Demokratie, allerdings nicht
so sehr wegen der Stimmbürger, sondern wegen Parteien, die Themen im Sinne ihrer Positionen extrapolieren und instrumentalisieren. Hier liegt das
eigentliche Problem, auch beim Referendum gegen die USR III. Das Thema wurde letztlich auf die angebliche Umverteilung von unten nach oben reduziert.
Ihr Buch zeigt
eine Entfremdung zwischen Wirtschaft und «Normalbürgern».
In erster Linie dokumentiert es die Entfremdung zwischen Wirtschaft und Politik. Sie begann in den 1990er
Jahren mit der verstärkten Globalisierung und internationalem Kapital, das auch in die Schweizer Wirtschaft floss. Mit ihnen kam ein internationales Management, womit der
Bezug zur Schweiz geschwunden ist. In unserem Land fällt dies wegen der
direkten Demokratie ins Gewicht. Letztlich stimmt die
Bevölkerung über Standortbedingungen ab. In einer
repräsentativen Demokratie verhandeln das die Deputierten mit den
Unternehmensvertretern.
Als «Gegenmittel» fordern Sie die Wirtschaftsführer auf, sich vermehrt als Citoyens im
politischen Diskurs zu engagieren. Man hat nicht den Eindruck, dass
in dieser Hinsicht viel geschehen ist, insbesondere bei der USR III.
Wichtig ist, dies rechtzeitig und kontinuierlich zu tun. Denn es kann
kontraproduktiv sein, sich erst dann in eine Debatte
einzuschalten, wenn es «heiss» wird. Der Vorwurf kann dann lauten: «Ihr beteiligt euch sonst
nie am Diskurs, aber wenn es um Steuern geht, seid ihr plötzlich
da.» Politische Zurückhaltung und Einmischung sind eine schwierige Balance, und ich
habe durchaus ein gewisses Verständnis für die Unternehmer, dass
sie diese Arbeit den Verbänden überlassen.
Nur haben diese
Verbände nicht mehr die gleiche Deutungshoheit wie früher.
Wie zu Beginn erwähnt: «Die Wirtschaft» wird nicht mehr einfach positiv wahrgenommen, auch wenn wir alle «die Wirtschaft» sind. Da gibt es offensichtlich mehr Aufklärungsbedarf als in der Vergangenheit.
Wie soll das
geschehen? Sie haben selber festgestellt, dass viele
Wirtschaftsführer davor zurückschrecken, sich politisch zu
exponieren, weil dies dem Geschäft schaden könnte.
Wir fragen die Unternehmer und Manager immer wieder, ob sie mit ihrer Belegschaft über politische Themen reden. Die Bandbreite ist gross. Für einige ist das
selbstverständlich. Sie treten regelmässig und auch vor Abstimmungen persönlich vor ihre Mitarbeitenden und kommunizieren ihre Meinung. Andere veranstalten interne Streitgespräche, damit die Leute beide Positionen erfahren. Wieder andere kommunizieren via Intranet. Und dann gibt es diejenigen, die gar nichts machen, weil sie meinen, ihren Angestellten damit praktisch vorzuschreiben, wie sie abstimmen sollen. Insgesamt aber wächst die Erkenntnis, dass ein solches Engagement durchaus lohnenswert ist.
Die 25
Unternehmer-Porträts in Ihrem Buch vermitteln den Eindruck, dass
diese Leute in einer eigenen Welt leben, die mit jener der «Normalbürger» wenig gemeinsam hat.
Das ist sehr
unterschiedlich. Einige Unternehmensführer sind schneller bereit, einen Standortwechsel ins Auge zu fassen. Andere sind zurückhaltender. Das Klischee der Wirtschaft, die ständig mit dem Wegzug droht, können wir aber gerade nicht bestätigen. Es kam in den Gesprächen sogar überraschend wenig zum Ausdruck.
Trotzdem denken
diese Leute sehr globalisiert …
… das müssen sie
auch …
… während der
Normalbürger sich an seinem persönlichen Umfeld orientiert.
Wenn der Normalbürger – mit einem Schweizer Lohn in der Tasche – zum Einkaufen ins angrenzende Ausland fährt, handelt er auch globalisiert. Auch für die Ferien schätzt er die Globalisierung. Die Leute stimmen als Bürger ab und agieren als Konsumenten im Markt. Das ist genauso nachvollziehbar wie widersprüchlich.
Die Unternehmer
haben ein sehr positives, fast idealisiertes Bild der Schweiz.
Gleichzeitig betonen Sie, dass die Heimat dieser Unternehmen nicht
das Land, sondern der Markt ist.
Ja, sie schätzen das Land persönlich. Als Unternehmer aber nehmen sie eine andere Perspektive ein. Das muss auch so sein, sonst bekommen sie mittelfristig Probleme. Ihre Aufgabe ist es, die Wertschöpfung zu steigern und damit letztlich auch Arbeitsplätze zu sichern.
Das führt zu
einem etwas zugespitzten Befund: Die von ihnen befragten
Wirtschaftsführer könnten problemlos mit dem EU-Beitritt und der
Abschaffung des Frankens leben.
In der Tat haben wir mehrmals zu hören bekommen, dass Unternehmer den Euro vorziehen würden, insbesondere wenn sie primär auf dem europäischen Markt tätig sind. Die wirklich interessante Erkenntnis aber betrifft die Europäische Union. Im vertraulichen Gespräch äussern sie sich sehr klar für ein geordnetes Verhältnis, einige sogar für einen Beitritt. Gleichzeitig betonen sie, dass sie dies öffentlich nicht sagen würden.
Der EU-Beitritt
ist in keinster Weise mehrheitsfähig. Wird durch das Schweigen der
Unternehmer nicht die Entfremdung zwischen Wirtschaft und «Volk» verstärkt?
Ich betrachte das
Problem in einem grösseren Kontext. Früher äusserte sich der
Protest gegen die Globalisierung in Demonstrationen gegen das WEF
oder die G20. Heute kommt diese Stimme an der Urne zum Tragen. Die EU
wird zum «Sündenbock» für die Globalisierung, was sich etwa im Aufstieg der Populisten oder im Brexit manifestiert. Es besteht
eine grosse Skepsis, ob der Freihandel und die Mobilität von
Unternehmen und Kapitalien wirklich nur gut für alle ist. Immerhin hat die Schweiz hierauf bisher gute Antworten gefunden, durch ein austariertes System inländischen Ausgleichs, sowohl sozial wie regional. Diese sorgfältige Balance wird derzeit eher von links bedroht.
Am Ende kommen
die Unternehmen zum Schluss, dass sie die Schweiz verlassen werden.
Unmerklich findet
das bereits statt. Wenn Unternehmen hier nicht mehr investieren, tun sie dies anderswo. Wenn die Hürden gegenüber dem europäischen Binnenmarkt zu hoch werden, gehen sie nach Deutschland oder Osteuropa. Kein Unternehmen verlegt leichtfertig seinen Standort. So lange es nicht unter den Nägeln brennt, versuchen die Firmen zu bleiben. Aber es braucht Anstrengungen, um dies zu vermitteln, und nach dieser Abstimmung muss man diese Anstrengungen nochmals verstärken.
Teilweise spürt
man auch eine gewisse Überheblichkeit. Sie zitieren einen
Unternehmer mit der Aussage: «Der Schweiz geht es noch viel zu
gut.»
Das ist keine Überheblichkeit. Man kann sich schon fragen, in welchem Mass sich die Krise von 2008 auf die Schweiz ausgewirkt hat. Wir können uns nicht weniger leisten und haben auch nicht mehr Arbeitslose. Es wurden im Gegenteil Stellen geschaffen, die Beschäftigung hat zugenommen. Ginge es den Menschen allerdings tatsächlich schlechter, würden sie wohl noch deutlicher für eine Abschottung stimmen.
Strukturschwache,
ländliche Regionen haben die USR III fast noch deutlicher abgelehnt
als die «linken» Städte. Obwohl gerade sie auf Transferzahlungen
angewiesen sind.
Bei der Zuwanderung
war es genauso. Auf dem Land, wo der Ausländeranteil gering ist,
sagt man Nein. Je konkreter man mit einem Phänomen in Berührung
kommt, umso besser kann man abschätzen, ob es gut oder schlecht ist.
Sonst glaubt man eher das, was einem gesagt wird.
Also muss sich
die Wirtschaft stärker engagieren?
Es gibt nicht «die Wirtschaft». Alle Menschen sind Teil davon, dennoch betrachten sie sie als losgelöst vom Alltag, fast wie etwas
Extraterrestrisches. Sie müsste viel stärker vermittelt werden,
und darum betonen wir die aus unserer Sicht viel zu wenig genutzte
Möglichkeit, mit den Mitarbeitern zu sprechen. Sie sind am
Wochenende die Stimmbürger, die teilweise gegen ihre Interessen
abstimmen. Hier liegt ein unseres Erachtens ungenutztes Vermittlungspotenzial.
Könnte das Nein
zur USR III als Weckruf wirken?
Schon der 9. Februar 2014 war ein Weckruf. Die Frankensituation hat sich auch nicht entspannt. Deshalb wage ich nicht die Prognose, dass die Unternehmen ihre
Hauptanstrengung auf Kommunikation und Vermittlung verlegen werden
(lacht). Dennoch: sie ist notwendig, und viele Unternehmen und Verbände machen heute deutlich mehr als noch vor drei Jahren. Eine solche «Wiederannäherung» aber braucht Zeit. Es wird auch in den nächsten Jahren schwierige Abstimmungen geben. Das Verhältnis zur EU bleibt ein Thema. Am Ende geht es immer wieder um die Entscheidung, Teil dieses grossen Binnenmarktes zu sein oder nicht.