530'000 Menschen in unserem Land sind arm. Das macht viele nachdenklich. Warum ist das Thema so emotional?
Bettina Fredrich: Studien zeigen auf, dass die Schweiz Jahr für Jahr das reichste Land ist, das Land mit dem durchschnittlich grössten Vermögen pro Kopf. Aktuell sind es 570'000 Franken. Doch dieses Vermögen ist immer ungleicher verteilt. Über eine halbe Millionen Menschen besitzen gar nichts. Das empört viele Schweizerinnen und Schweizer.
Gar nichts ist in der Schweiz halt nicht ganz gar nichts. Wie müssen wir uns arme Schweizer vorstellen?
Wer lediglich 2219 Franken pro Monat zur Verfügung hat, gilt bei uns als arm. Eine Familie mit zwei Kindern, die mit 4031 Franken auskommen muss, ebenfalls. Diese Menschen haben zwar ein Dach über dem Kopf und zu Essen, aber sie können nicht am öffentlichen Leben teilnehmen. Häufig leben sie in sozialer Isolation.
Was bedeutet das?
Eine armutsbetroffene Familie kann beispielsweise nicht in die Ferien, die Kinder können kein Instrument lernen, nicht Pony reiten gehen und sie haben keine Bücher. Die Hobbies werden vom Portemonnaie bestimmt. Kinder armer Eltern trauen sich nicht, Freundinnen oder Freunde nach Hause zu nehmen, weil sie in einer kleinen Wohnung wohnen und kein eigenes Zimmer haben. Oder sie gehen an keine Geburtstage mehr, weil es kein Geld gibt für Geschenke. Bringt heute ein Kind an einen Kindergeburtstag etwas selber Gebasteltes mit, wird es schräg angeschaut. Es gibt viele Beispiele mehr. Die Armut in der Schweiz hat viele Gesichter.
Sieht man diesen Menschen ihre Armut an?
Armutsbetroffenen Menschen fehlt das Geld für den Zahnarzt. Also gehen sie nicht mehr hin. So verschleppen sie Bagatellen und werden ernsthaft krank. Dies wiederum hält sie langfristig von der Arbeit ab. Eventuell verlieren sie diese. Es sind häufig viele Faktoren, die Armut verursachen und verstärken. Schlechte Gesundheit, unsicherer Job, keine angemessene Wohnversorgung. Das führt zu Rückzug.
Wohin ziehen sie sich zurück?
Viele Leute schämen sich für ihre Armut und versuchen sich zu verstecken. Bei uns heisst es, wer will, der ist nicht arm. Bei uns kann es jeder schaffen. Arme gelten oft als Schmarotzer. Doch das ist einfach nur falsch. Unsere Armut ist hausgemacht. Wir haben ein strukturelles Problem.
Inwiefern ein strukturelles Problem?
Das grösste Armutsrisiko haben Menschen ohne nachobligatorische Bildung. Das sind Menschen, die sich nach der obligatorischen Schule irgendwie durchkämpfen, von Job zu Job hüpfen. Verlieren sie einen solchen Job, finden sie nur schwer einen neuen, weil sie keine Ausbildung haben. Hierzulande verschwinden immer mehr Jobs für Niedrigqualifizierte. Sie werden entweder in andere Länder ausgelagert, wo Arbeitskräfte billiger sind oder Maschinen übernehmen ihre Arbeiten. Wir müssen also bei der Bildung und der Qualifizierung der Menschen ansetzen.
Aber die Schweiz hat doch eines der besten Bildungssysteme überhaupt.
Das stimmt in vielerlei Hinsicht. Mängel bestehen aber bei den Möglichkeiten zur Nachhol- und Weiterbildung. Hier muss die Schweiz investieren und zwar bei allen Arbeitnehmenden. Heute ist es so, dass vor allem Männer, die 100 Prozent arbeiten, von Weiterbildungen profitieren. Frauen, die einen Teilzeit-Job haben, weil sie zum Beispiel alleinerziehend sind, ist das vergönnt. Somit bleiben Niedrigqualifizierte oft arm. Das muss sich ändern. Hier ist auch die Wirtschaft gefordert.
Was erwarten Sie von der Wirtschaft?
Es braucht existenzsichernde Löhne und Investitionen in qualifizierende Weiterbildung. Das bedeutet, dass auch Arbeiternehmende mit weniger gut bezahlten Jobs von einer Firma weitergebildet werden müssen. Es muss für alle Angestellten eine Karriereplanung geben.
Die Unternehmen sollen das alles stemmen?
Nein. Es braucht das Engagement von allen Akteuren. Wir wissen heute, dass Ungleichheiten zwischen Kindern durch Kindergarten und Schule nicht wettgemacht werden können. Um die ungleichen Startchancen auszugleichen, braucht es frühe Förderung vor dem obligatorischen Kindergarten – zum Beispiel in Kitas. Für armutsbetroffene Familien ist das aber oft zu teuer. Deshalb werden Kinder, die in Armut aufwachsen, von wirksamen Massnahmen ausgeschlossen. Die Gefahr, dass sie selbst später armutsbetroffen sind, ist gross. Hier ist der Bund gehalten, die Kosten für die Kitas zu senken.
Das Wundermittel heisst schlicht Bildung?
Bildung ist zentral, um Armut zu verhindern. Mit Bildung alleine schafft man die Armut aber nicht aus der Welt. Ob Menschen von Armut betroffen sind, hängt auch von den Möglichkeiten ab, Familie und Beruf zu vereinbaren. Zudem spielen die Kosten für das Wohnen und die Krankenkasse eine zentrale Rolle.
Die Wirtschaft macht zu wenig. Tun Politiker mehr?
Seit 2013 gibt es immerhin ein nationales Programm gegen die Bekämpfung von Armut in der Schweiz. Das ist gut. Auf kantonaler Ebene allerdings sieht es wesentlich schlechter aus. Weil man in der Vergangenheit grosszügig Steuern für Gutverdienende gesenkt hat, fehlt den Kantonen nun das Geld für eine wirksame Armutspolitik. Sie müssen sparen und tun dies auf dem Buckel der Ärmsten. Das muss korrigiert werden. Eine erste Weiche stellen wir, indem wir die Unternehmenssteuerreform III nicht annehmen.
Was viele vergessen: Arm seinist richtig teuer. Man bezahlt dies mit Zeit und seiner Gesundheit, und man lebt indirekt auf Kredit -> Billige Kleidung muss häufiger ersetzt werden. Billiges Essen führt unter Umständen zu Mangelernährung und gesundheitlichen Problemen-> Arztkosten
Die Beschaffung von alltäglichem ist aufwändiger, da man nicht einfach so zu Migros/Coop gehen kann, sondern sich Aktionen heraussuchen muss, Preise vergleichen muss etc -> Zeit die anderswo wieder fehlt.