«Gestorben wird immer», lautet eine Lebensweisheit. Das Problem ist nur: geboren nicht. Seit Jahrzehnten kämpft die Schweiz mit sinkenden Geburtenzahlen. Der Kindermangel bedroht die AHV, das Wirtschaftswachstum, den Selbsterhalt. Nun scheint die Trendwende allerdings endgültig vollzogen. Im vergangenen Jahr kamen so viele Buben und Mädchen zur Welt wie seit 23 Jahren nicht mehr. Das geht aus neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik hervor. 86'559 Babys sind Rekord.
Den Tiefpunkt erreichte die Schweiz Anfang der 2000er-Jahre. Eine Frau brachte durchschnittlich nur noch 1.38 Kinder zur Welt: der niedrigste Wert seit 1860, dem Beginn der Messung. Seither hat sich die Geburtenrate kontinuierlich erholt, auf den aktuellen Rekordwert von 1.54.
Zum Babyboom in der Schweiz beigetragen haben ausgerechnet die Brandherde im Ausland: Finanzkrise, Kriege, Terror. Die Krisenjahre haben Spuren hinterlassen. «In einer unsicheren, schnelllebigen Welt bildet die Familie eine Art Insel», nennt François Höpflinger, emeritierter Familiensoziologe an der Universität Zürich, einen der Gründe. «Traditionelle Werte erhalten neuen Aufwind.» Die Individualisierung habe ihren Höhepunkt überschritten. «Das Singledasein wurde vom Leitbild zum Leidbild», sagt er. Hingegen erlebe die Mutterschaft eine Renaissance. Das gelte besonders für Kleinfamilien. Für den Anstieg hauptverantwortlich sind nicht Mütter, die viele Babys bekommen, sondern weniger Frauen, die kinderlos verbleiben. Die Zahl der Kleinfamilien steigt.
Bemerkenswert an der Renaissance sind die Unterschiede zwischen den Kantonen. So bringen Appenzellerinnen (1,77 pro Frau) deutlich mehr Kinder zur Welt als Zürcherinnen (1,55) oder Baslerinnen (1,37). Das hat erstens mit der eher traditionellen Rollenverteilung in ländlichen Gebieten zu tun, wo Mütter nach der Geburt öfter zu Hause bleiben. Zweitens gilt der eigene Nachwuchs – besonders für kleine Familienbetriebe – als Zukunft der Firma. Sie sollen den Betrieb eines Tages übernehmen.
Doch auch die urbanen Gebiete legen zu. «Es gibt einen kleinen Babyboom in den Städten», sagt Höpflinger. Ein naheliegender Grund ist die Demografie: Die Töchter der Babyboomer sind heute diejenigen, die Kinder bekommen können. Es gibt einfach mehr Frauen zwischen 26 und 36 Jahren. Hinzu kommt, dass heute junge Paare öfter in der Stadt wohnen bleiben, selbst wenn sie ein Baby bekommen. Früher wären viele in einen Vorort gezogen. Zuletzt tragen auch andere Nationen zum Boom in den Städten bei. Ausländer leben häufiger in den Städten – und haben in der Regel mehr Kinder als Schweizer. Führend sind die Kosovaren und die Norweger mit im Durchschnitt 2,7 Kindern.
«Besonders die Skandinavier haben verinnerlicht, dass Kinder und Beruf heute unter einen Hut zu bringen sind – für Mütter und Väter», sagt Höpflinger. Die Elternzeit ist in diesen Ländern mit bis zu zwei Jahren vergleichsweise lang. «Selbst wenn sie in die Schweiz auswandern, behalten sie ihre Kultur der Vereinbarkeit bei», sagt er.
Höpflinger prognostiziert, dass der Trend zu mehr Babys anhalten wird. «Wir bewegen uns in der Familienpolitik Richtung Norwegen, Finnland und Schweden.» Dementsprechend könnte auch die Schweiz in den kommenden Jahrzehnten auf eine Geburtenziffer von 1,8 Kindern pro Frau kommen.
Das grösste Potenzial, um in der Schweiz die Geburtenrate weiter zu erhöhen, liegt in der Kinderbetreuung: «Diesbezüglich ist die Schweiz noch ein Entwicklungsland, wenn man sie mit den fortschrittlichen nordeuropäischen Ländern vergleicht», deutete der Schweizer Kinderarzt und Autor Remo Largo an. Die skandinavischen Länder wenden im Schnitt 4 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts für die Familie auf. Die Schweiz lediglich 1,6 Prozent. Die Folge: Krippenplätze sind teuer.
Eltern müssen hierzulande etwa einen Drittel ihres Einkommens für einen Platz in der Krippe hinblättern. Das ist im europäischen Vergleich ein Spitzenwert. In den meisten Schweizer Grossstädten kostet ein Krippenplatz 150 Franken am Tag. Mit dem Ergebnis, dass sich eine Teilzeitstelle selbst für gut ausgebildete Informatikerinnen und Lehrerinnen nur in seltenen Fällen auszahlt.
Doch es gibt noch andere Aspekte als die finanziellen, die den Wunsch nach weiteren Kindern beeinflussen und zu einer höheren Geburtenrate führen können. Die Aufgabenteilung in der Familie spielt eine entscheidende Rolle. Noch immer bleibt ein Grossteil der Betreuung einseitig an der Mutter hängen. «In Ländern mit niedrigen Geburtenraten tragen Männer in der Regel wenig zur Kinderbetreuung bei», sagt der deutsche Volkswirtschaftsprofessor Matthias Doepcke. Das gilt besonders für Deutschland und die Schweiz. So investieren Mütter hierzulande fast doppelt so viel Zeit in Hausarbeit wie Väter.
Das erklärt die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Noch immer gilt bei Schweizerinnen und Schweizern die Zwei-Kind-Familie als Ideal, die Realität weist aber 1,5 Kinder pro Frau aus – noch. Gemäss Bund steigt die Zahl der Geburten in den kommenden zehn Jahren weiter an.
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