Die Anklageschrift des Schreckens ist 42 Seiten lang. Sie erschüttert. Sie schmettert nieder. Sie weckt Bilder im Kopf, die man nicht sehen will. Es geht um 20 Jahre des sich stets wiederholenden Missbrauchs. Um einen Mann, der acht Knaben geknechtet haben soll.
Nachdem ein Opfer Anzeige erstattete, kam man ihm endlich auf die Schliche. Seit 27. Januar 2015 ist der Schweizer inhaftiert. Zum Zeitpunkt der Endfassung der Anklageschrift letzten Herbst sass der Mann in Untersuchungshaft im Gefängnis Limmattal.
Das erste ihm zur Last gelegte Delikt datiert die Staatsanwaltschaft auf das Jahr 1994. Die Knaben übernachteten jeweils beim Mann zuhause, ein Knabe pro Nacht, manche von ihnen über hundert Mal. Jeder Abend für sich war grausam. Aus der Anklage sind aber grundsätzliche Handlungsmuster zu erkennen, die sich stets wiederholten.
Ein Beispiel: Vor dem Zubettgehen gab der Mann den Knaben jeweils, so vermutet die Staatsanwaltschaft, ein Süssgetränk, das er zuvor mit einem Mittel so präparierte, dass die Knaben danach tief und fest schliefen und nichts von der folgenden Schande bemerkten. Der Mann soll sich nun am Genitalbereich der Knaben zu schaffen gemacht haben – wie genau, sei hier aus Pietätsgründen nicht erwähnt.
Nur soviel: Die Anklage ist jeweils sehr konkret. Manchmal befriedigte sich der Täter gleichzeitig, manchmal filmte er die Tat. Noch ein Beispiel: Der Mann und auf dessen Aufforderung hin die Knaben lagen am Abend im gleichen Bett und schauten Filme, auch Pornos. Der Mann pausierte den Film und zwang die Knaben, ihn zu befriedigen, damit sie den Film fertig schauen dürfen.
Das sind nur zwei Muster der mehreren hundert Übergriffe, die dem Mann zur Last gelegt werden. Insgesamt kommen in der Anklageschrift acht Geschädigte vor. Der jüngste war beim ersten Übergriff 8 Jahre alt, der älteste war beim letzten Übergriff 15. Die beiden längsten der vorgeworfenen Missbrauchsverhältnisse dauerten sieben Jahre.
Die Übernachtungen fanden regelmässig statt, zum Beispiel in einem zweiwöchentlichen Rhythmus. Fasst man die Daten zusammen, zeigt sich: Zu seiner aktivsten Zeit kamen während zweier Jahre drei der Knaben so regelmässig zu ihm, dass er jede Woche Besuch hatte. Mit einem 13-Jährigen trank und kiffte er regelmässig.
Die Taten passierten an seinem früheren Wohnort Dietikon, an seinem späteren Wohnort, während Ferien im Ausland und in einem Pfadilager, in dem der Mann Leiter war. Der Mann hat nicht alle, aber einen Teil seiner Opfer in der Pfadi kennengelernt, wie Staatsanwältin Simone Altenburger auf Anfrage sagt.
Bei der Hausdurchsuchung fanden die Polizisten zudem Festplatten mit illegalem Inhalt: 5072 kinderpornografische Video- und 31'162 Bilddateien zählten die Ermittler. Dazu kommen sechs Videokassetten mit Kinderpornos, die der Beschuldigte selbst gemacht hatte.
Am 25. April muss sich der Mann dem Dietiker Bezirksgericht stellen. Staatsanwältin Altenburger hat noch nicht endgültig festgelegt, welche Strafe sie fordern wird. Die Ermittlungen durch die Kantonspolizei Zürich, die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis und die Staatsanwaltschaft für Gewaltdelikte seien aufwendig gewesen, nicht nur wegen der Unmenge an Daten, welche die Polizisten zu sichten hatten. «Es war schwierig, die Geschädigten anhand der Filmaufnahmen zu identifizieren», sagt Altenburger.
Der vorliegende Fall sei aussergewöhnlich: «Von den Zürcher Fällen im Bereich der sexuellen Gewalt an Kindern ist dies einer der grössten der letzten Jahre. Es ist aus unserer Sicht zudem nicht unwahrscheinlich, dass es noch mehr Geschädigte gibt, zu denen uns aber keine Hinweise vorliegen.» Dazu kommt: Erst seit einem Volksentscheid im Jahr 2008 sind Sexualdelikte an Kindern unverjährbar.
Der letzte Wohnort des Beschuldigten liegt mit dem Auto gut eine Viertelstunde vom früheren Wohnort Dietikon entfernt. Das Mehrfamilienhaus mit Giebeldach ist idyllisch. Noch immer prangt der Name des Kinderschänders an der Türklingel. Ausser den heruntergelassenen Rollläden deutet nichts daraufhin, dass er das Haus seit über zwei Jahren nicht mehr betreten hat. Daneben: ein Kinderspielplatz. Von einem Balkon schallt das übermütige Geschrei zweier Jugendlicher und vermischt sich mit dem abendlichen Vogelgezwitscher. Es ist Frühling, Frühling vor dem Tor zur Hölle. (aargauerzeitung.ch)
Zwei Fragen gehen mir nicht aus dem Kopf:
- Weshalb lassen Eltern ihre minderjährigen Jungen bei einem fremden, erwachsenen Mann übernachten?
- Weshalb gehen die Jungen immer wieder dort hin?