Die steigenden Gesundheitskosten bereiten der Schweizer Bevölkerung zunehmend Sorgen, das macht der neue Gesundheitsmonitor des Umfrageinstituts gfs deutlich. 92 Prozent der 1200 Befragten erwarten, dass die Kosten weiter steigen werden, 16 Prozent mehr als im Vorjahr. Für Studienleiter Urs Bieri ein deutlicher Ausdruck, dass die Sensibilität für die ungebrochene Kostenzunahme endgültig in der Gesellschaft angekommen ist. Kein Wunder – die Prämien steigen seit zehn Jahren kontinuierlich.
Dieses Kostenbewusstsein führt dazu, dass gewisse Leistungen der Grundversicherung bei der Bevölkerung umstrittener sind als früher. Der Trend zur Entsolidarisierung hatte sich schon vergangenes Jahr gezeigt, nun ist er noch einmal stärker geworden, wie der Gesundheitsmonitor zeigt. So forderten 65 Prozent der Befragten (plus 15 Prozentpunkte), dass die Krankenkassen die Medikamentenkosten in Bagatellfällen nicht mehr übernehmen.
Auch bei gesundheitlichen Schäden durch Alkohol und Tabak zeigt sich die Bevölkerung 2017 intoleranter. 63 Prozent der Befragten sind nicht mehr bereit, diese Kosten mitzutragen. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der ärztlich verordneten Heroinabgabe: 58 Prozent sind gegen die Übernahme der Kosten durch die Grundversicherung, bei anderen Behandlungen in Zusammenhang mit Drogenabhängigkeit sind es 63 Prozent.
Die Leistungserbringung bei Krebskrankheiten hingegen findet nach wie vor eine breite Unterstützung. «Sobald eine individuelle Betroffenheit da ist, ist man nicht bereit auf Leistung zu verzichten», erklärt Bieri den Unterschied. «Aufgrund der steigenden Kosten fangen die Leute an, nach Bereichen zu suchen, wo man sparen könnte. Und dann landet man halt bei den Minderheiten.»
Für SP-Nationalrätin Bea Heim ist klar: «Die Entsolidarisierung ist eine Folge des populistischen Geschwätzes jener, die keine wirksamen Kostendämpfungsmassnahmen im Gesundheitswesen wollen, weil sie mit der Pharma-Industrie und den privaten Krankenkassen verbandelt sind.»
Angesichts der Umfrageresultate stellt sich die Frage, ob die Idee der Solidarität, der Grundsatz des Gesundheitssystems, ausgedient hat.
Für Thomas Weibel ist klar: auch die Solidarität hat ihre Grenzen. «Wo diese genau liegen, muss im gesellschaftlichen Diskurs ausgelotet werden», sagt der GLP-Nationalrat. Der Gedanke, dass ein gesunder Lebensstil zu sinkenden individuellen Gesundheitskosten führt, findet Weibel nicht verwerflich, im Gegenteil. Wer gesund lebt, der soll belohnt werden, fordert der Grünliberale.
Dieser Idee kann auch SP-Nationalrätin Yvonne Feri etwas abgewinnen. «Wir müssen an den Anreizsystemen herumschrauben», ist die Gesundheitspolitikerin überzeugt. Denn: «Wir bewegen uns viel zu wenig, man kann das überspitzt in der Formel ‹Sitzen ist das neue Rauchen› festhalten.»
Einer der Schlüsse, um dieser Entwicklung zu begegnen, liege in der Prävention, so Feri. Die Nationalrätin macht sich aber keine Illusionen: «In der Politik haben es präventive Massnahmen momentan extrem schwer. Prävention heisst ja, ‹ich investiere zuerst und ernte den Erfolg später› – für die rechtsbürgerliche Mehrheit ist das ein rotes Tuch.»
Trotz zunehmenden Gesundheitsbewusstseins: Die Gefahr einer «Gesundheitsdiktatur» sehen weder Weibel noch Feri. Der GLP-Nationalrat stellt fest, dass die Politik bei den entsprechenden Fragen ohnehin blockiert ist: «Eine gänzliche Abkehr vom Grundsatz der Solidarität hin zur Eigenverantwortung ist unrealistisch».
Auch Gfs-Studienleiter Bieri sieht keine Gesundheitsdiktatur am Horizont aufziehen. «Falls sich unser Gesundheitssystem aber irgendwann Richtung Zwei-Klassen-Medizin bewegt, müsste man das akzeptieren, schliesslich handelte es sich um einen demokratischen Entscheid.»
«Im Moment aber», hält Bieri fest, «ist die wichtigste Solidarität noch immer gegeben, und zwar die zwischen Jung und Alt.»
Kein Wunder: Schliesslich wird jeder einmal alt.
(wst)