Auf den ersten Blick ist es eine gute Nachricht für das Zugpersonal: Eine Reorganisation des Verkehrsmanagements solle ab nächstem Jahr «mehr Nähe zu den Kunden» schaffen, informierte die SBB ihre Mitarbeiter unlängst in einer internen Mitteilung. Weil verschiedene Berufsbilder wie Zugbegleiter oder Stichkontrolleur zusammengefasst werden, können die Mitarbeiter künftig einfacher neue Aufgaben übernehmen. Zudem sollen die Abläufe schlanker werden.
Auf den zweiten Blick kommt es für manche Angestellte aber knüppeldick: Durch die Neuorganisation werde es «weniger Stellen in der Führung geben», heisst es im Mailing, das watson vorliegt. «Die heutigen Chefs müssen sich auf die neuen Posten bewerben und es wird eine Nomination erfolgen.» Betroffen sind rund 190 Mitarbeiter des mittleren und unteren Kaders – erstere erfahren bis Ende Juni, ob sie ihren alten Job behalten dürfen, letztere bis Ende September.
Klar ist: Jeder Fünfte muss künftig auf seinen Kaderposten verzichten. Die SBB bestätigt auf Anfrage, es werde künftig 20 Prozent weniger Führungsstellen geben, weil die «Hierarchie verflacht» werde. Die Ankündigung sorgt in der Belegschaft für dicke Luft. Manuel Avallone, Vizepräsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV, sagt: «Es schafft natürlich ein Klima der Unsicherheit, wenn die Kaderleute nicht wissen, ob sie ihren Job nächstes Jahr noch haben oder nicht.»
Aus seiner Sicht ist es eine Alibiübung, wenn sich altbekannte Mitarbeiter formell um ihre eigene Stelle bewerben müssen: «Die Verantwortlichen kennen ja ihre Kaderleute und wissen oft haargenau, wen sie künftig noch in Chefpositionen sehen wollen.» Avallone vermutet, dass das Vorgehen für die SBB auch eine willkommene Gelegenheit ist, sich unangenehmer Mitarbeiter in Kaderfunktionen zu entledigen.
Thomas Geiser, Professor für Arbeitsrecht an der Universität St. Gallen, sagt, rechtlich könne die SBB von ihren Mitarbeitern gar nicht verlangen, sich neu auf die eigene Stelle zu bewerben. «Solange keine Kündigung gegen einen Mitarbeiter ausgesprochen wird, läuft das Arbeitsverhältnis formal unverändert weiter.»
Dazu kommt: Während es im Privatrecht grundsätzlich jederzeit möglich ist, einem Arbeitnehmer zu kündigen, sind die SBB-Mitarbeiter besser geschützt. Sie haben ein öffentlich-rechtliches Verhältnis, sind dem Bundespersonalgesetz unterstellt. Der SBB-Gesamtarbeitsvertrag hält zudem fest, dass keinem Mitarbeiter gekündigt werden darf, der schon länger als vier Jahre im Betrieb angestellt ist.
Geiser sagt: «Das Bewerbungsverfahren dürfte unter diesen Vorzeichen vor allem dazu dienen, die Personalentscheide im Zuge der Umstrukturierung zu legitimieren.» Ob dies sinnvoll ist, sei fraglich: «Solche Prozesse sind in aller Regel aufwändig und kosten viel. Unter Umständen wäre es einfacher, mit den Wackelkandidaten direkt das Gespräch zu suchen.»
Man habe Verständnis dafür, dass die Situation «zu Verunsicherung bei unseren Kadern führen kann», sagt SBB-Sprecherin Masha Foursova auf Anfrage. Umso mehr bemühe sich die SBB um Transparenz. «Durch den Nominationsprozess stellen wir eine Chancengleichheit im Bewerbungsprozess sicher», betont sie.
Die Reorganisation sei nötig geworden, weil sich das Reiseverhalten der Kunden aufgrund der Digitalisierung verändert habe. «Dieser Entwicklung müssen wir Rechnung tragen, indem wir bestehende Dienstleistungen anpassen und Berufsbilder weiterentwickeln.» Selbstverständlich sei die SBB mit den Sozialpartnern im Gespräch.
Entlassungen sind nicht vorgesehen. «Wir sind überzeugt, dass wir für alle Mitarbeitenden eine gute Lösung finden werden. Bei Fällen, wo es zu keiner Nomination kommt, werden wir die Mitarbeitenden individuell begleiten und gemeinsam Lösungen finden.»
Für Gewerkschafter Manuel Avallone ein schwacher Trost. Er verweist darauf, dass die Reorganisation im Rahmen des Sparprogramms RailFit stattfindet, in dessen Rahmen bis im Jahr 2020 rund 1400 Stellen gestrichen werden sollen. «Auch wenn die Kaderleute vorerst irgendwo im Betrieb weiterbeschäftigt werden, fallen die Stellen früher oder später über Fluktuation weg», bedauert er. Die Wahrscheinlichkeit sei gross, dass es in naher Zukunft noch in zahlreichen weiteren Unternehmensbereichen der SBB zu Reorganisationen dieser Art komme.