Vor 21 (Stand 2023) Jahren wurde auf HBO die erste Folge von «The Wire» ausgestrahlt. Mit mässigem Erfolg – die Einschaltquoten blieben durchschnittlich. Nicht aber die Kritiken. Die waren überragend.
Vielleicht auch deshalb sind «The-Wire»-Fans ein bisschen wie Linux-Nerds. Sie sitzen auf ihrem hohen Ross und mimimien von dort auf den unerleuchteten Pöbel hinunter. Denn sie haben es ja begriffen, das Komplizierte, das Clevere, das Beste.
Die mässigen Einschaltquoten von «The Wire» sind einfach zu erklären, denn die Serie ist in vielerlei Hinsicht nicht massentauglich: Die Dialoglastigkeit, die komplizierte Handlung auf verschiedenen Ebenen, die unverständlichen Begriffe aus Politik-, Polizei- und Gangwesen. Wäre ich nicht von zwei Freunden beharrlich traktiert worden, hätte ich nach der ersten Folge aufgegeben.
Auch so benötigte ich ganze drei Anläufe (über 3 Jahre verteilt), um mir die Serie warmzusehen. Dann aber versank ich darin wie seither nie mehr in einer Serie. Auch heute noch, nach «Breaking Bad», «House of Cards», «Fargo», «Sherlock» «True Detective» und wie sie alle hiessen, ist «The Wire» für mich die beste Serie aller Zeiten. Und dafür gibt es gute Gründe.
Viele Medienerzeugnisse – nicht nur Serien – begehen den Fehler, dass sie vom dümmst-möglichen Konsumenten ausgehen: Verständlich, erträglich und leicht verdaulich muss es sein. Einfaltspinselkompatibel.
«The Wire» begeht diesen Fehler nicht. Die Handlungsstränge sind dicht und verstrickt, erklärt wird nur das Nötigste. Wer nicht aufmerksam zusieht, verliert den Faden. Kenntnisse der amerikanischen Politik und im Polizeiwesen sind von Vorteil.
Viele Medienerzeugnisse – vor allem amerikanische – begehen den Fehler, dass sie ihre Produkte dem Diktat der biedersten Zuseher unterwerfen. Auch in diese Falle tappt «The Wire» nicht. Es wird gesoffen, gekotzt und gebumst. Und wie wir später sehen werden, auch geflucht.
Das Fundament von «The Wire» ist eine klassische Polizei-Vs-Gangster-Geschichte, geschrieben von David Simon und Ed Burns.
Simon arbeitete 13 Jahre lang als Polizeireporter für die Baltimore Sun, Burns war 20 Jahre lang als Polizist in Baltimore aktiv – unter anderem im Mordkommissariat und im Drogendezernat.
Wer eine derart lange Zeit derart intensiv im Sumpf einer heruntergekommenen amerikanischen Grossstadt verbracht hat, der kann knackige Anekdoten erzählen, ohne mit dem Klischeepinsel Hollywoods dick auftragen zu müssen. «The Wire» wirkt dementsprechend glaubhafter, einen Tick roher und weniger geschliffen und hebt sich damit wohltuend ab.
«The Wire» spielt nicht in New York, im coolen Los Angeles oder im hippen San Francisco. «The Wire» spielt in Baltimore.
Die einzige Disziplin, in der die Stadt landesweit einen Spitzenplatz belegt, ist die Mordrate. Dort nimmt die 620'000-Seelen-Stadt den zweiten Platz ein. Nur St.Louis steht der Hafenstadt noch vor der Sonne.
Es ist HBO hoch anzurechnen, dass die Serie nicht in eine bekanntere Metropole verschoben wurde. «The Wire» – das ist auch ein Portrait der Abgehängten.
Dort, wo andere Polizei-Serien aufhören, beginnt «The Wire». Denn Polizeiarbeit besteht nicht nur aus Verfolgungsjagden und Schiessereien, einen Grossteil der Zeit verbringen die Ermittler an ihrem Schreibtisch und erledigen Papierkram.
Was sich langweilig anhört, versteht «The Wire» als weiteren Krimi zu erzählen. Die Serie durchleuchtet den gesamten Polizeiapparat bis hin zur politischen Spitze der Stadt. Und in Sachen Spannung stehen die Machtspiele innerhalb des Polizeicorps den Strassenkämpfen in nichts nach.
Wer ist der Held der Strassenkids? Omar! Wen fürchten selbst die härtesten Gangster? Omar! Wer macht die meisten Damen klar? Nicht Omar. Denn Omar ist homosexuell und hält sich lieber einen süssen Boy.
Die Unaufgeregtheit, mit der in «The Wire» die Homosexualität einer Hauptfigur in Szene gesetzt wird, ist bis heute unerreicht. Pragmatismus at its best – und kein Einzelfall in «The Wire». Auch die Frauenfiguren sind durchs Band stark, ohne dass sie überzeichnet werden.
Man muss sich grundsätzlich die Frage stellen, weshalb ein ehemaliger Journalist und ein ehemaliger Polizist dreidimensionalere Charaktere kreieren als manch ein gelernter Hollywood-Schreiber.
Stringer Bell, McNulty, Bunk, Kima, Freamon, Bubbles, Omar, Pryzbylewski, Marlo, Snoop – die Liste könnte fast ins Unendliche verlängert werden. Alle diese Charaktere bleiben auch nach Jahren noch im Gedächtnis. Und das, obwohl die meisten der Figuren nicht von bekannten Charaktermimen gespielt werden.
'Nuff said?
In der Serie «24» tötet «Held» Jack Bauer wie am Fliessband, fluchen aber durfte er nicht – was Schauspieler Kiefer Sutherland auf die Palme brachte. Zu Recht.
«Fluchen» steht im realen Leben in der Hackordnung der zu vermeidenden Dinge im Leben etwa 18 Stufen unter «töten». Ein kaltblütiger Killer, der sich das Fluchen verbietet? Ein Paradebeispiel amerikanischer TV-Doppelmoral. «The Wire» ist auch in dieser Hinsicht erwachsener ...
«The Wire» umfasst fünf Staffeln. Mit jeder Staffel wird ein neuer Bereich des gesellschaftlichen Lebens in den Fokus gerückt. Keine der Staffeln fällt qualitativ ab, obwohl die fünfte und zweite Staffel die schlechtesten Kritiken erhielten.
Anyway.
Die Macher von «The Wire» wussten, wann sie ihr Pulver verschossen hatten. In dem Sinn nur noch ein letzter Tip: Im Originalton mit Untertiteln downloaden schauen. Sonst scheitert das Experiment.