Dominique Aegerter und Tom Lüthi sind die einzigen Sieg- und Titelanwärter in der Moto2-WM, die im Winter die Marke gewechselt haben: Von der schweizerischen Suter zur deutschen Kalex. Umfangreiche Tests wären also wichtig gewesen, um sich an die neuen Höllenmaschinen zu gewöhnen.
Aber daraus ist nichts geworden. An keinem der 16 Testtage in Südfrankreich (Le Castellet) und Spanien (Valencia, Jerez, Aragon) war das Wetter gut. In Le Castellet und Aragon schneite es sogar. Teamchef Fred Corminboeuf sagt: «Wir hatten nur an zwei von 16 Tagen halbwegs akzeptable Bedingungen.» So kommt es, dass die Unsicherheit gross ist. Wo stehen die beiden Schweizer im Vergleich zur Konkurrenz? Harmonieren die zwei Töff-Alphatiere, die erstmals im gleichen Team fahren? Wer ist eigentlich die Nummer 1 im Team? Dominique Aegerter oder Tom Lüthi?
Die Tests, die auf diese Fragen hätten erste Antworten liefern sollen, sind nicht aussagekräftig. Ein erster Blick auf die Resultatblätter mit den Testergebnissen hilft uns nicht weiter. Aber ein zweiter Blick hinter die Kulissen der Equipe schon.
Ganz umsonst war das umfangreiche Testprogramm nicht. Tom Lüthi und Dominique Aegerter sind sich im Laufe des Winters näher gekommen. Während der verregneten Testtage mussten sie oft stundenlang untätig herumsitzen. «Wir verstehen uns gut», sagt Tom Lüthi. Er sagt es mit der coolen Selbstsicherheit eines Routiniers, der die Regeln in diesem Spiel kennt. Er darf gar nichts anderes sagen. Die Investoren, die diese Saison rund drei Millionen in dieses Team stecken und der umtriebige Teamchef Fred Corminboeuf würden sonst an die Decke springen. In diesem Geschäft gibt es ein ungeschriebenes Gesetz: Wenn du nichts Gutes über deinen Teamkollege zu sagen hast, dann schweige.
Also spricht auch Dominique Aegerter nur gut über seinen neuen Teamkollegen. «Als ich erfuhr, dass Tom mein Teamkollege wird, dachte ich, dass das nie funktionieren kann. Inzwischen haben wir viel Zeit miteinander verbracht. Wir reisten zusammen und sassen oft stundenlang herum. Nun kann ich sagen: Das ‹Tom-Problem› ist gelöst.»
Zwei Freunde, die gemeinsam zum Abenteuer Moto2-WM 2015 aufbrechen und wunderbar harmonieren? Nicht ganz. Es gibt ein Bild, das mehr aussagt als alle Erklärungen. Donnerstag, 19. März. Der letzte, verregnete Testtag in Jerez. Tom Lüthi lässt das letzte Training ausfallen und läuft schon in Zivilkleidung herum. Dominique Aegerter müht sich hingegen noch auf nasser Piste ab. Der Routinier, der es sich erlauben kann, auf Tests zu verzichten, während sich der Lehrbub draussen abmühen muss.
Tom Lüthi sagt: «Was soll ich auf nasser Piste fahren? Das bringt mir gar nichts mehr.» Dominique Aegerter wirkt bei der gleichen Frage nachdenklich. «Ich brauche einfach mehr Zeit. Deshalb bin ich nochmals raus. Der Tom hat mehr Erfahrung, sitzt einfach auf den Töff und ist sofort schnell. Das schaffe ich nicht.»
Tom Lüthi kann mit den fehlenden Testkilometern besser umgehen. Er sagt: «Wenigstens habe ich jedes Mal, wenn ich auf der Maschine sitze, ein gutes Gefühl.» Dominique Aegerter hat dieses gute Gefühl noch nicht. Ihm fehlen die Testkilometer. Er wird sich an die neue Maschine gewöhnen – aber es ist durchaus möglich, dass er drei bis vier Rennen braucht, bis er wieder das hohe Niveau der letzten Saison erreicht.
Für beide Schweizer ist es wichtig, dass sie ihre bisherigen technischen Vertrauenspersonen ins neue Team einbringen konnten. Der Franzose Gilles Bigot kümmert sich weiterhin als Cheftechniker um Dominique Aegerters Töff. Tom Lüthi arbeitet nach wie vor mit dem deutschen Cheftechniker Alfred Willecke zusammen. Die beiden Fahrer teilen lediglich die Infrastruktur (Truck, Hospitality, Administration).
Nach den Winter- und Frühjahrstests ist eine erste Einordnung möglich: Tom Lüthi ist vorerst der stille, heimliche Chef im Team. Die Nummer 1. Weil er viel mehr Erfahrung hat. Der Weltmeister von 2005 ist fünf Jahre länger im Geschäft. Er hat schon alles erlebt und durchgestanden. Triumphe und Krisen. Jahre ohne Siege. Zeiten, in denen er um die Fortsetzung seiner Karriere bangen musste.
Er steht vor seiner 13. Saison und ein Star ist er schon seit 2005, als er Weltmeister und vor Roger Federer Sportler des Jahres wurde. Und er weiss, wie es ist, als Promi im Scheinwerferlicht der Medien zu stehen. Seine Beziehung mit der schönen, klugen und letztlich zu ehrgeizigen Fabienne Kropf und das Ende dieser Romanze sind in den Medien abgehandelt worden. Tom Lüthi bringt nicht mehr so schnell etwas aus der Fassung.
Dominique Aegerter fehlt diese Erfahrung. 2015 ist zwar schon seine neunte Saison. Aber erst im Laufe des letzten Jahres ist er mit seinem ersten GP-Sieg auf dem Sachsenring ein nationaler Sportstar geworden. Jetzt sind die Erwartungen hoch. «Ich spüre es, dass in meinem Umfeld mehr erwartet wird. Ich setze mich ja selbst unter Druck und versuche alles, um besser zu werden. Aber es ist schon eine neue Art von Druck», sagt Aegerter. Er werde deshalb wieder mit einem Mentaltrainer arbeiten. «Ich muss lernen, alle äusseren Einflüsse auszublenden. Es ist nicht so einfach, vor dem Rennen die hundertprozentige Konzentration zu finden.»
Auch wenn die Ranglisten der verschiedenen verregneten Tests nicht aussagekräftig sind – etwas fällt auf: Tom Lüthi war immer schneller als sein Teamkollege. Was ist los? Dominique Aegerter ist zwar nicht verunsichert und er zweifelt nicht an seinen Fähigkeiten. Mental ist er robust. Aber der Sunnyboy wirkt kurz vor dem Saisonstart ungewohnt nachdenklich und er sagt selbstkritisch: «Ich war bei Tests noch nie wirklich schnell. Auch letzte Saison nicht. Aber es ist klar: Ich muss schneller werden.»
Noch hat keiner ein Rennen verloren, noch gibt es keine Polemik. Die vorerst für die Dauer eines Jahres geschlossene motorisierte Zwangsehe befindet sich nach den Wintertests allerdings erst im Stadium der Flitterwochen. Der Alltag beginnt mit dem ersten Rennen am Sonntag beim GP von Katar in Doha. Dann wird es erstmals einen Sieger und einen Verlierer geben. Anders als in einer echten Ehe können von diesem Tag an nicht mehr beide Partner restlos glücklich sein.
Was sein wird, wenn es nicht mehr harmonieren sollte, weiss Teamchef Fred Corminboeuf allerdings bereits: «Dann werde ich mich nicht scheuen, mit der Faust auf den Tisch zu hauen.» Die Frage ist dann allerdings, ob er ernst genommen wird.