Leonardo Genoni ist das, was wir im herkömmlichen Sprachgebrauch als «Kopfmenschen» bezeichnen. Seine Worte wählt der Goalie der Schweizer Eishockey-Nationalmannschaft immer mit Bedacht. Oder anders ausgedrückt: Der 29-Jährige spielt so, wie er spricht. Besonnen, ausgeglichen, konzentriert, fokussiert.
Er strahlt diese Ruhe aus, die in einer bisweilen hektischen Sportart wie Eishockey auf seiner Position unabdingbar ist. Wenn der letzte Mann nicht Herr seiner Sinne und Taten ist, dann merken das die Mitspieler eher früher als später – und die Geschichte nimmt oft kein gutes Ende.
Auch deshalb liegt es Leonardo Genoni am Tag vor dem WM-Viertelfinal gegen Schweden fern, schon allzu sehr in die Ferne zu schweifen. Vor allem dann, wenn das Gute so nahe liegt. Es entspricht schlicht nicht seinem Naturell, sich in einer Fantasiewelt zu bewegen und zu Motivationszwecken irgendwelche Traumschlösser zu bauen.
Zum Beispiel, einen Sieg gegen den Favoriten aus dem hohen Norden zu Motivationszwecken innerlich zu visualisieren: «Dafür bin ich zu realistisch. Als Goalie muss man immer im Augenblick leben. Wenn Du einmal nicht bereit bist, dann leuchtet die rote Torlampe im Rücken.»
Dabei steht für den vierfachen Schweizer Meistergoalie (dreimal mit Davos, einmal mit Bern) gegen die Schweden durchaus etwas auf dem Spiel. Weltmeisterschaften haben dem Kilchberger, der in der Organisation der ZSC Lions ausgebildet wurde, bis zu diesem Jahr noch nicht wirklich Glück gebracht. Ihm stand in jeder seiner bisherigen drei WM-Teilnahmen ein Konkurrent vor der Sonne. Er war 2011 (Kosice), 2014 (Minsk) und 2015 (Prag) dabei, kam aber total nur auf sechs Einsätze. In Kosice war er die Nummer 2 hinter Tobias Stephan, in Minsk und in Prag jeweils hinter Reto Berra.
Besonders aus Prag ist eine Anekdote überliefert, die bezeichnend dafür ist, wie kompliziert die Beziehung zwischen Leonardo Genoni und der Nationalmannschaft bisher war. Der Sohn eines Herzchirurgen kam 2015 als frischgebackener Meistergoalie mit dem HC Davos ans WM-Turnier. Er hatte seine Mannschaft fast im Alleingang zum Titel gehext.
Reto Berra, der mit den Colorado Avalanche in der NHL eine eher schwierige Saison hinter sich hatte, erhielt vom damaligen Nationaltrainer Glen Hanlon – vermutlich aufgrund seines NHL-Status – jedoch von Anfang an mehr Vertrauen.
Doch die Statistik nach den sieben Vorrundenspiele sprach eine deutliche Sprache. Genonis Fangquote bei dessen drei Einsätzen betrug über 95 Prozent. Jene von Berra nach dessen vier Spielen: klar unter 90 Prozent. Und wer spielte schliesslich im Viertelfinal gegen die USA? Richtig: Reto Berra.
Hanlon, der Genoni am Tag vor dem Spiel noch den Einsatz zugesichert hatte, überlegte es sich auf der Zugfahrt zum Spielort Ostrava anders und setzte schliesslich doch auf den Mann mit der NHL-Erfahrung. Die Schweiz verlor 1:3. Es war ein Personalentscheid, welcher Hanlon am Ende trotz laufendem Vertrags unter anderem den Job als Nationaltrainer kosten sollte.
11. im Powerplay, 6. im Boxplay. Durchschnitt in Über- und Unterzahl wird gegen Schweden nicht reichen.
Der Schweizer Goalie Leonardo Genoni muss über sich hinauswachsen und auch ein paar unhaltbare Schüsse halten.
Dumme Strafen nehmen nicht erlaubt. Die Schweden mit ihren NHL-Stars lauern auf jede Powerplay-Chance.
Hinten dichtmachen und vorne auf den lieben Gott zu hoffen, wird nicht klappen. Die Schweizer müssen mutig mitspielen.
Gegen die Tschechen blockten die Schweizer unzählige Schüsse des Gegners. Mehr davon – auch gegen Schweden.
Heute Abend wird Leonardo Genoni also die Gelegenheit erhalten, sich endgültig mit der Nationalmannschaft zu versöhnen. Und damit vielleicht auch auf internationaler Ebene die Anerkennung zu erhalten, die er sich längst verdient hätte. Nicht, dass er es nötig hätte. Sein Status ist in der Schweiz sowieso unbestritten. Und Ambitionen, dereinst noch einen Anlauf in Richtung NHL zu nehmen, hegt er, der ausgeprägte Familienmensch, sowieso nicht.
Auch deshalb sieht Genoni dieses Spiel gegen die Schweden nicht unter einem besonderen Blickwinkel, sondern betrachtet es mit der ihm typischen Nüchternheit: «Ich freue mich sehr auf dieses Spiel. Es ist eine schöne Affiche. Aber es ist nicht so, dass ich anders herangehe, als ich es mir gewohnt bin. Mein Job ist und bleibt der gleiche. Ich muss den Puck stoppen.»
Gegen die mit NHL-Stars gespickten Schweden wird Leonardo Genoni zweifellos eine Schlüsselrolle spielen. Gegen Gegner, die auf dem Papier in allen Belangen überlegen sind, ist oft der Goalie der rettende Anker. Je länger die Skandinavier sich am Schweizer Keeper die Zähne ausbeissen, umso grösser wird die Chance, dass es den Eisgenossen zu einem Exploit reicht.
«Wir wissen, dass die Schweden ein grosses Team haben. Aber wir wissen auch, dass wir im Verlauf des Turniers schon grosse Gegner geschlagen haben», bringt Leonardo Genoni die optimistische Denkweise seiner Mannschaft auf den Punkt. Einer Mannschaft, die im Verlauf der letzten knapp zwei Wochen zu einer Einheit zusammengewachsen ist.
So überraschend diese Entwicklung für die Aussenstehenden sein mag, so logisch ist sie für den Berner Meistergoalie: «In dieser Mannschaft sind nicht die Namen wichtig, die auf den Trikots stehen. Wichtig ist das weisse Kreuz, dass vorne drauf ist. Und der Kampf. Ich weiss nicht, wie viel die Stars wirklich ausmachen an dieser WM. Man setzt grosse Hoffnungen in sie. Und wenn sie sie dann nicht erfüllen, sind sie die Deppen. Eishockey ist ein Mannschaftssport. Man kann nur zusammen gewinnen und diesen Weg gehen. Das haben wir begriffen.»