Thomas Rüfenacht (32) war schon immer ein wilder Junge mit gesundem Selbstvertrauen. Er ist 16 und spielt im Schulteam. Im gegnerischen Team steht einer, der als kommender Superstar gilt, sich auch entsprechend aufführt und provokativ ein teures Halskettchen trägt. Im Laufe des Spiels kommt es prompt zu einem Gerangel und Rüfenacht versucht, dem Gegenspieler den Halsschmuck zu entreissen. Die zwei kräftigsten und bösesten gegnerischen Spieler verhindern es. Der 14-jährige Schulbub hat schon Bodyguards. Er heisst Sidney Crosby.
Diese Geschichte ist verbürgt. Inzwischen verdient Sidney Crosby 12 Millionen Dollar pro Saison. Thomas Rüfenacht wird während seiner ganzen Karriere nicht so viel Geld verdienen. Aber er hat seinen Weg auch gemacht und hat soeben mit dem SC Bern seinen zweiten Titel gefeiert. Er ist Kari Jalonens mutigster und bester Grenadier. Wer Sidney Crosby nicht fürchtet, dem steht die Hockey-Welt offen.
Seine Karriere ist typisch für nordamerikanische Kids, die es nicht einmal in eine der grossen drei nordamerikanischen Junioren-Ligen schaffen (WHL, OHL, QMJHL) und dann sozusagen auf dem zweiten Bildungsweg in der Schweiz doch noch eine Profi-Karriere machen. Aber leicht hat er es in seinem Hockeyleben noch nie gehabt. Jetzt, in der Stunde des zweiten meisterlichen Triumphes geht fast vergessen, dass er auch beim SC Bern, am Ort seiner Bestimmung, von verletzungsbedingten Rückschlägen nicht verschont geblieben ist. Er hat in keiner seiner bisher drei SCB-Saisons alle Spiele der Qualifikation bestritten.
Eigentlich ist Thomas Rüfenacht Luzerner. Er ist in Luzern geboren. Aber dann bekommt sein Vater den Auftrag, für eine Schweizer Firma eine Filiale in den USA aufzubauen. Und so zieht die Familie mit dem sechs Monate alten Thomas nach Nordamerika. Geplant sind fünf Jahre. Daraus ist ein Leben in den USA geworden. Vater Rüfenacht betreibt inzwischen eine gute Autostunde ausserhalb von Pittsburgh eine eigene Firma. Sein Bub Thomas spricht zwar nach wie vor fast akzentfrei Schweizerdeutsch, aber er ist in seinem Wesen und Wirken ein Nordamerikaner. Und deshalb hat er es geschafft.
Aller Anfang ist schwer. Rüfenacht hat keinerlei Aussichten auf eine Karriere im nordamerikanischen Profihockey. Auch Verletzungen (u.a. ein Beinbruch) haben ihn zurückgeworfen. Aber er kennt die Familie von Trainer Andy Murray, und so sagt er sich: Warum nicht in die Schweiz? «Ich war zwar schon mehrmals in der Schweiz gewesen. Aber ich wusste gar nicht, dass es in der Schweiz möglich ist, Profihockey zu spielen. Ich konnte mir das irgendwie gar nicht vorstellen. Erst die Murrays haben mich auf diese Chance aufmerksam gemacht.»
Weil er eben ein optimistischer Nordamerikaner ist, lässt er sich nicht unterkriegen. Der Spieleragent Gérald Métroz bringt ihn in die Schweiz. Später wird er zu Daniel Giger wechseln. Er beginnt seine Tour de Suisse im Sommer 2003 bei den Elite-Junioren der SCL Tigers. Dort lernt er auch seine heutige Frau kennen. Über Schnuppereinsätze in der NLA kommt er nicht hinaus, und er wird in Langnau als nicht NLA-tauglich taxiert. Er wechselt in die NLB zu Visp und dort schickt ihn der unerbittliche Trainer Kevin Ryan schon mal für ein paar Spiele in die 1. Liga zu Saastal. Zu einem Team, das auf einer offenen Eisbahn spielt.
Aber Rüfenacht lässt sich nicht unterkriegen. Die Kombination aus Mut, Leidenschaft, Härte und gutem Spielinstinkt setzt sich immer mehr durch. 2006/2007 gelingt der Durchbruch: 61 Punkte und 102 Strafminuten für Visp. Im Sommer 2009 ist er beim EV Zug in der NLA angelangt. Doch dort kommt er nicht über die Rolle des «Goons» hinaus. Im zweiten und dritten Jahr ist er in Zug NLA-Strafenkönig. Aber er schafft nicht einmal 20 Skorerpunkte. Er ist ein guter Rollenspieler. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Für die grosse Karriere, fürs Nationalteam, fürs «grosse Hockey» reicht das nicht. Niemand ahnt, dass er 2017 in den Playoffs nicht nur der meistbestrafte Spieler sein würde. Sondern im Finale auch noch der beste Skorer. Erst der Wechsel im Sommer 2012 nach Lugano bringt die Wende. Weil mehrere Stammspieler durch Verletzungen ausfallen, setzt Trainer Larry Huras den vermeintlichen Goon in der ersten Linie und im Powerplay ein. Und siehe da: Der «Goon» kann tanzen! Thomas Rüfenacht verdoppelt seine Torproduktion auf 14 Treffer. Im Frühjahr 2014 folgt die Berufung ins WM-Team nach Minsk und schliesslich der Transfer zum SC Bern.
In Bern ist er am Ort seiner Bestimmung angelangt. «Als ich vor zehn Jahren in der NLB bei Visp spielte, hätte ich niemals gedacht, dereinst einen Vertrag in Bern zu erhalten. Vor über 16'000 Zuschauern spielen zu dürfen – was willst du mehr? Mein Spielstil passt perfekt zu Bern.»
Seine enorme spielerische Entwicklung beim SC Bern lässt sich am besten mit den Playoffs dokumentieren:
Ja, Thomas Rüfenacht ist diese Saison ganz oben angekommen: er dominierte die Aussenbahnen im ersten Sturm neben Topskorer Marc Arcobello und dem Power-Riesen Simon Moser. Die beste Angriffsreihe im Land. Und er war zusammen mit Marc Arcobello der beste Skorer der Finalserie.
Während dieser Entwicklung hat Rüfenacht seine Bissigkeit nicht verloren – er ist auch der meistbestrafte Spieler der Playoffs 2017. Diese Kombination von Gut und Böse, Bissigkeit und spielerischer Klasse hat es so in unserem Hockey noch nicht gegeben. Thomas Rüfenacht ist das Salz im meisterlichen Spiel des SC Bern. Er sagt über sich: «Ich hasse Bequemlichkeit. Ich bin einer, der immer neue Herausforderungen braucht und sich verbessern will.»
Der Aufstieg vom «Goon» zum charismatischen Leitwolf und Skorer kommt überraschend, aber nicht für ihn. «Alle dachten früher, der Rüfenacht sei ein dummer Spieler, einer, der nur Strafen kassiere. Wer auf die Statistik blickt, sieht bei mir tatsächlich viele Strafminuten. Was aber nicht ersichtlich ist: Ich kassiere selten Strafen, bei denen nur ich auf die Strafbank geschickt werde. Ich war nie ein Blender. Aber ich kann auf hohem Niveau Zug aufs Tor entwickeln und solid spielen. Ich lebe Eishockey, mache für das Team, was es braucht. Ich werfe mich in Schüsse, ich stecke Schläge ein, ich provoziere und ich gehe vor dem Tor dorthin, wo es blaue Flecken gibt.»
Die Mitspieler mögen Thomas Rüfenacht, weil er unkompliziert ist, gute Stimmung verbreitet, Selbstironie hat und ebene jene Leichtigkeit des Seins, dieses «Lebe den Tag, packe deine Chance» vorlebt, das uns Schweizern nicht so leicht fällt. So macht er sich keine grossen Gedanken, was sein wird, wenn er einmal nicht mehr spielen kann. «Ich weiss nur, dass ich im Eishockey bleiben und Trainer werden möchte.»
Wir sollten nicht ausschliessen, dass auch seine Trainerkarriere ganz bescheiden beginnen wird,vielleicht bei den Junioren. Und dass sie ganz oben auf meisterlichen Gipfeln enden wird.