Wie kann es sein, dass eine Mannschaft mit dem besten Schweizer Skorer nicht bloss die Playoffs verpasst, sondern auch noch in den Playout-Final stürzt?
Die Meinung ist schnell gemacht: Julien Sprunger ist halt ein welscher Spieler. Kein Leader. Ein Schönwetter-Leitwolf. Captain Krise.
Eine solche Beurteilung ist nicht nur fachlich barer Unsinn. Sie ist auch eine schwere Beleidigung einer grossen Spielerpersönlichkeit. Gottérons Captain ist der letzte «Copain». Der letzte grosse, mutige, furchtlose Kämpfer, der alle seine Kräfte und hockeytechnischen Gottesgaben ausschliesslich Gottéron zur Verfügung stellt.
Als «Copains» («Freunde») werden bei Gottéron jene Helden verehrt, die zu Beginn der 1980er Jahre als verschworene Bande den Aufstieg in die höchste Liga schafften. Männer aus der Unterstadt. Sie hiessen Robelon Meuwly, Rodolphe Raemy, Köbu Lüdi oder Jean-Charles Rotzetter.
Hockey-Weltpräsident René Fasel, auch einer von Gottéron, hat einmal gesagt, immer wenn Rotzetter in seiner Zahnarztpraxis auf dem Behandlungsstuhl sitze, und den Mund aufmache, wisse er, was eigentlich Kampfgeist, was Gottéron bedeutet. Die Flügelfräse war nicht zu stoppen. 16 Mal schlugen ihm seine Gegenspieler die Zähne aus, zuerst acht echte, dann die dafür eingesetzten acht künstlichen. Viermal zertrümmerten sie ihm das Nasenbein, brachen ihm beide Handgelenke, mehrmals die Mittelhandknochen und fünfmal kugelte er die Schulter aus und die Bänder rissen im linken und rechten Fuss. Aber als Jean-Charles Rotzetter im Frühjahr 1988 den Stock im Alter von 30 Jahren in die Ecke stellte, war er körperlich und psychisch ungebrochen, stolz und aufrecht.
Nein, ich bin nicht vom Thema abgekommen. Aber wenn wir Gottéron und Julien Sprunger verstehen wollen, dann müssen wir wissen, was ein echter Spieler dieses Klubs ist. Julien Sprunger ist Gottérons Jean-Charles Rotzetter des 21. Jahrhunderts. Aber grösser, kräftiger, besser, talentierter und deshalb nehmen wir ihn nicht als in erster Linie Fräser, Kämpfer und «Copain» wahr wie Rotzetter. Sondern als Skorer, als Star. Und wenn er skort, aber seine Mannschaft verliert, dann ist der erste Gedanke: Ein Solist, der sein Team nicht führen kann.
An der Wand der Kabine der Montreal Canadiens prangt über die ganze Länge das Motto des berühmtesten Hockeyclubs der Welt. In Englisch: «To you from failing hands we throw the torch. Be yours to hold it high.» Und, natürlich, auch in Französisch: «Nos bras meurtris vous tendent le flambeau, à vous toujours de le porter bien haut.»
Es sind Zeilen aus dem Gedicht «In Flanders Fields», der bekanntesten englischsprachigen Dichtung über den Ersten Weltkrieg. Sie wurde am 3. Mai 1915 vom kanadischen Leutnant John McCrea verfasst, dessen Freund am Vortag bei einem Granatenangriff in der zweiten Flandernschlacht bei Ypern gefallen war. John McCrae verarbeitete seine Trauer in diesem Gedicht über die Felder von Flandern, wo der rote Mohn an das vergossene Blut der Gefallenen erinnert und dennoch die Hoffnung nährt, dass das Leben weitergeht.
Als ich diese Inschrift im Heiligtum der Canadiens zum ersten Mal sah, war mir sofort klar: Das passt auch zu Gottéron. Nun mag der Zusammenhang zwischen Kriegserinnerungen und Eishockey kein passender sein. Aber die eindringlichsten Worte über Zusammenhalt, Leiden, Opferbereitschaft und Hingabe finden wir eben in dieser Literatur, die in einem am Krieg beteiligten Land wie Kanada (rund 60'000 Kanadier verloren im Ersten Weltkrieg ihr Leben) eine ganz andere Bedeutung hat als in der Schweiz.
Julien Sprunger ist der Spieler, der mit seiner Leidenschaft und Opferbereitschaft diese Worte an der Kabinenwand der Montréal Canadiens durch und durch verkörpert. Und Gottéron ist ein Klub, der nur dank dieser Einstellung als einziger neben Kloten noch nie aus der NLA abgestiegen ist.
Aber wir haben immer noch keine Antwort auf die Frage: Wie kann es denn sein, dass ein so charismatischer Leitwolf wie Julien Sprunger seine Mannschaft nicht in die Playoffs zu führen vermag?
Die Kanadier geben uns auch darauf eine Antwort. Sie sagen, Eishockey sei der letzte wahre Mannschaftssport. Nicht ein Star macht eine Mannschaft. Mannschaften machen einen Star. Julien Sprunger ist der einzige Spieler, der noch diesen Geist der «Copains» bewahrt hat. Deshalb ist eine der talentiertesten Mannschaften in der Geschichte Gottérons so tief gefallen.
Das mag das Ausmass der Gottéron-Krise, die Mängel auf allen Ebenen dokumentieren. Einer alleine kann es eben nicht richten. Selbst der grosse Wayne Gretzky war nicht dazu in der Lage, die New York Rangers zu einem Stanley Cup zu führen. Mark Messier, wahrscheinlich der charismatischste Leitwolf der Hockeygeschichte, gewann mit Edmonton und den Rangers Stanley Cups – aber in Vancouver war er chancenlos. Mario Lemieux wurde mit Pittsburgh erst Stanley-Cup-Sieger, als er Mitspieler wie Jaromir Jagr bekam. Dale Hawerchuk mühte sich in Winnipeg und Buffalo jahrelang vergeblich ab.
In Bern, in Lugano, bei den ZSC Lions oder in Davos wäre Julien Sprunger der Leitwolf mehrerer Meisterteams geworden. Er würde als einer der charismatischsten und besten Spieler aller Zeiten verehrt. Aber seine Treue zu Gottéron ist grösser als das Streben nach meisterlichem Ruhm in der Fremde.
Captain Krise? Nein, ganz einfach «Captain Gottéron». Und einer der grössten Schweizer Spieler aller Zeiten. Mit einer Einschränkung: Er ist es nur, wenn er seine Mannschaft tatsächlich vor dem Sturz in die Liga-Qualifikation bewahrt. Aber dafür braucht es zum Schluss doch noch das wahre Gottéron.
Wenn sich Gottéron hingegen gegen Ambri über sieben Spiele nicht durchsetzen kann, wenn Julien Sprunger gegen Torhüter wie Gauthier Descloux und Sandro Zurkirchen scheitert – dann ist es die schlimmste Schmach seit dem Aufstieg von 1980. Dann gibt es das wahre Gottéron nicht mehr. Und in diesem Falle steht für mich bereits der Titel über die nächste Analyse zu diesem Thema: «Wie die Männer von Gottéron Julien Sprunger, den letzten Copain, verraten haben.»
Cheftrainer Larry Huras wäre dann die Eishockey-Antwort auf Kapitän Edward John Smith. Der Brite kommandierte nacheinander die grossen Schiffe Britannic, Republic, Majestic, Baltic, Adriatic und Olympic. Aufgrund seiner immensen Erfahrung wurde ihm die Titanic anvertraut – und mit diesem unsinkbaren Schiff versank er im Alter von 62 Jahren in den eisigen Fluten des Atlantiks.
Larry Huras kommandierte nacheinander die grossen Klubs in Zürich, in Ambri, nochmals in Zürich, in Lugano, erneut in Ambri, in Bern und erneut in Lugano. Aufgrund seiner immensen Erfahrung ist ihm im Alter von 61 Jahren diese Saison Gottéron anvertraut worden. So wie die Titanic als unsinkbar galt, so gilt Gottéron als unabsteigbar.