Warum hat es wieder nicht gereicht? Ganz einfach: Die Schweizer waren offensiv zu wenig gut. Wieder einmal. Wir sind auf diesem Niveau ganz offensichtlich nur dazu in der Lage, dann, wenn es wirklich zählt, mit den besten Stürmern, den besten Verteidigern etwas zu bewegen – mit dem NHL-Titanen Nino Niederreiter und Roman Josi. Wie 2013 in Stockholm. Da haben wir zum einzigen Mal seit 2000 (3:5 gegen Kanada) in einem Viertelfinale mehr als einen Treffer erzielt und gegen Tschechien 2:1 gewonnen. Den Siegestreffer erzielte Roman Josi.
Es ist eine bittere Ironie des Hockeyschicksals, dass die Schweizer gegen die Schweden bei einer zu offensiven Spielweise in der Offensive gescheitert sind. Sie flogen zu hoch, kamen der Sonne der Sensation zu nahe und stürzten ab wie einst Ikarus.
Da es ein dramatisches Finale war, passt ein bildhafter Vergleich mit Ikarus, einer Figur aus der griechischen Mythologie. Er stieg trotz der Warnung seines Vaters so hoch hinauf, dass die Sonne das Wachs seiner Flügel schmolz, woraufhin sich die Federn lösten und er ins Meer stürzte.
So ist es den Schweizern ergangen. Sie flogen im zweiten Drittel (das sie mit 13:9 Torschüssen dominierten) offensiv trotz der Mahnungen ihres Trainers zur defensiven Absicherung höher, immer höher und schliesslich zu hoch. Zu hoch geflogen, aus dem Turnier geflogen.
Noch selten ist Schweden in einem «Alles-oder-nichts-Spiel» bei einer WM so unter Druck geraten wie in diesem zweiten Drittel. Die Schweizer setzen sich gegen eine Abwehr aus lauter NHL-Verteidigern immer wieder durch, scheitern aber an Henrik Lundqvist, einem der besten NHL-Torhüter.
Ein «tödlicher» Konter brachte die Entscheidung, den Absturz. Raphael Diaz, euphorisiert von seinen vorwärtsfliegenden Kameraden, wagt sich zu weit vor, das Wachs an den defensiven Flügeln schmilzt, um beim Bild von Ikarus zu bleiben. Er kommt beim Gegenangriff zu spät, der brave Christian Marti ist zu langsam und Leonardo Genoni hat kein Glück. Schweden führt 2:1. Der Anfang vom Ende der bittersten Niederlage dieses Turniers.
Ob es gelungen wäre, eine Führung (ein 3:1 nach zwei Dritteln lag in der Luft) über die Zeit zu retten, ist allerdings fraglich. Aber mit Glück wäre ein Sieg in dieser ausgeglichenen Partie (27:29 Torschüsse) möglich gewesen. Am Ende ist es wohl so, dass Patrick Fischer im Laufe dieses Turniers vom «Glückskonto» zu viel Guthaben beziehen musste.
Das letzte Guthaben musste er hergeben, um dieses Viertelfinale auszugleichen. Das 1:1 von Gaëtan Haas – er war der beste Schweizer in dieser Partie – ist ein Eigentor von Verteidiger Oliver Ekman-Larsson. Von seinem Schlittschuh prallt der Puck in die winzig kleine Lücke, die zwischen den Schonern seines Goalies offengeblieben ist. Ein sehr, sehr glückliches Tor – und nur mit weiterhin so viel Beistand der Hockey-Götter wäre es wohl möglich gewesen, in einer so intensiven, hochstehenden Partie weitere Tore zu erzielen und zum ersten Mal in der Geschichte ein «WM-Playoff-Spiel» gegen Schweden zu gewinnen.
Dieser Beistand blieb den Schweizern versagt. Dominik Schlumpfs regulärem Anschlusstor zum 3:2 (56. Min.) bleibt die Anerkennung versagt. Weil die Schiedsrichter das Spiel zu früh unterbrochen hatten. Und es passt auch ins Gesamtbild, dass Raphael Diaz, dieser oft so glücklos, aber immer aufopfernd kämpfende «Captain Winkelried», in der Schlussphase von einem Puck am Kopf getroffen wird und das Spiel nicht beenden kann. Wahrlich, es war wirklich kein Guthaben mehr auf unserem Glückskonto.
Eines der spektakulärsten WM-Turniere seit dem Wiederaufstieg von 1998 (aus Schweizer Sicht) hat ein dramatisches, aufwühlendes und letztlich doch versöhnliches Ende gefunden. Was mit einem Operetten-Spiel (5:4 n. P. nach einer 4:0-Führung) gegen Auf- und Absteiger Slowenien begonnen hat, endet mit einem Spiel auf Augenhöhe mit einem der Titanen des Welthockeys.
Die ganz besondere Qualität der Schweizer in Paris: Die «weichen Faktoren» stimmten: die Disziplin, der Zusammenhalt, die Leidenschaft. Dafür ist in allererster Linie der Trainer mit seinem Coaching-Team verantwortlich. Das wichtigste Erbe von Paris 2017 sorgt dafür, dass das so bleiben wird: Nationaltrainer Patrick Fischer hat seine Rolle im Laufe des Turniers mit viel Glück gefunden und seine Position ist jetzt gefestigt. Die Zusammenarbeit mit Taktik-Lehrer Tommy Albelin trägt Früchte und der temperamentvolle Christian Wohlwend bringt Emotionen und Energie ins Team.
Ein charismatischer Nationaltrainer mit Schweizer Pass, also ein hockeytechnischer «Eidgenosse», ist der beste Werbeträger für unsere Nationalmannschaft. Nun ist Patrick Fischer der «Posterboy» unseres Hockeys. Paris 2017 hat die Popularität, den Werbewert und die hockeypolitische Bedeutung der Nationalmannschaft gegenüber den Klubs verbessert. Noch steht Patrick Fischers Glück auf dünnem Eis – aber es ist gerade wegen Patrick Fischers politischer und kommunikativer Begabung möglich, aus der WM 2017 hockeypolitisch in der Schweiz mehr zu machen als aus der Silber-WM 2013.
Paris 2017 weckt auch deshalb grosse, kühne Hoffnungen. Die Schweiz ist mit einem einzigen NHL-Vertreter (Denis Malgin) denkbar knapp an einem Gegner mit 19 Spielern aus der NHL gescheitert. Die NHL-Stars dürfen beim olympischen Turnier im nächsten Februar nicht mitspielen (so sieht es jedenfalls Stand heute aus). Schweden ohne seine 19 NHL-Profis hätten wir gestern besiegt. Die Träume von der ersten olympischen Hockey-Medaille der Männer seit 1948 in St.Moritz sind keine Schäume. Es ist eine riesige, realistische Chance für unser Hockey. Dort dürfen wir noch einmal zu einem Höhenflug aufsteigen und die Sonne (die Gegner) ist dann nicht so stark, dass wir wieder abstürzen wie einst Ikarus.