Medien, Buchmacher und selbsternannte Experten sind sich einig: Der FC Barcelona holt sich in Berlin das Triple – Juventus gebührt die Ehre, im Finale das letzte Opfer der Katalanen zu sein. Speziell für den Barça-Angriff «MSN» (für Messi, Suarez und Neymar) fehlen die Superlative.
Das Sturmtrio lässt scheinbar die Blutgrätschen der härtesten Verteidiger einfrieren. David Luiz versucht noch heute, seine Beine nach dem Rencontre mit Luis Suarez zu entknoten, Jérôme Boateng schläft seit drei Wochen im Messi-Pyjama und nun bittet die Südamerika-Fraktion die Alte Dame zum Tanz.
Der FC Barcelona ist der logische Champions-League-Sieger. Die Katalanen sind die mit Abstand beste Mannschaft Europas und damit auch der Welt. Aber wer sagt denn, dass die beste Mannschaft immer gewinnt? Wir haben 8 Punkte zusammengestellt, weshalb Juventus gegen den übermächtigen Gegner Grund zur Hoffnung hat. Es ist Zeit, «MSN» zu deinstallieren.
Barcelona hat alle bisherigen 12 Champions-League-Spiele mit einer 4-3-3-Formation und offensiver Ausrichtung gespielt. Das System beherrscht die Enrique-Truppe zwar perfekt, einen Plan B gibt es aber nicht.
Juventus hingegen variiert Spielsysteme, passt sich dem Gegner an. Das 3-5-2 (welches in der Rückwärtsbewegung zum 5-3-2 wird) können die Turiner seit der Conte-Ära im Schlaf. Das von Allegri eingeführte 4-3-1-2, was einem 4-4-2 mit Raute entspricht, ist offensiv weniger durchschaubar. Zudem können in dieser Formation die vier überragenden, zentralen Mittelfeldspieler Pirlo, Pogba, Marchisio und Vidal gleichzeitig spielen.
Die beiden Formationen können mit lediglich einem Wechsel umgestellt werden (IV für ZM oder umgekehrt). Juve startet im Sturm wohl mit den konterstarken Tevez und Morata – auf der Bank wartet die Alternative Llorente um vermehrt auf länge Bälle oder die Brechstange umzustellen.
Acht mal hat Juve-Trainer Massimilliano Allegri seit der Saison 2011/12 mit Milan in der Königsklasse gegen Barcelona gespielt. Mit jeweils deutlich schwächeren Kadern schauten immerhin ein Sieg und drei Unentschieden heraus – vier Mal, also lediglich in 50% der Spiele gab es eine Niederlage. In diesem Jahr hat Allegri bei Juventus eine bessere Mannschaft, als er sie bei Milan je hatte.
Der heutige Barcelona-Coach Luis Enrique, von 2011-2012 Trainer der AS Roma, traf mit den Hauptstädtern drei Mal auf Juventus. Nach der 1:1 in der Hinrunde folgten eine 0:3-Klatsche im Pokal, und ein 0:4 in der Liga-Rückrunde ...
Als Spieler schied Enrique 1995/96 im Champions-League-Viertelfinal mit Real gegen Juventus aus. 2003 unterlag er den Turinern im Halbfinale mit Barcelona. Juve ist so was wie der Angstgegner von Luis Enrique.
Das entscheidende Duell in dieser Partie? Messi gegen Evra, Suarez gegen Bonucci oder Neymar gegen Lichtsteiner? Nein, es wird Busquets gegen Vidal heissen. Sergio Busquets ist nämlich der wahre Schlüsselspieler des FC Barcelona.
Schafft es Busquets, Pässe durch die Linien auf die Stürmer zu spielen, ist Juventus verloren. Mit Arturo Vidal, der höchstwahrscheinlich auf der 10 auflaufen wird, hat Juve einen unermüdlichen Krieger, welcher genau diesen Busquets stoppen muss und kann. «El Guerrero», der erste Chilene in einem Champions-League-Final, ist ein Mann für grosse Spiele und noch grössere Gegner, das hat er auch gegen Real Madrid eindrücklich bewiesen.
Auf der anderen Seite hat Juventus mit Andrea Pirlo den Pythagoras unter den Fussballern in seinen Reihen. Schafft es Barca nicht, einen Mann fix auf ihn anzusetzen oder ihn gar vom Sturm her zu doppeln, wird der Maestro seine magistralen Pässe auspacken und dann brennt es in der Verteidigung von Barcelona.
Dazu kommt, dass Juventus im Mittelfeld neben der systembedingten numerischen Überzahl auch physisch überlegen ist. Das Mittelfeld, nicht die Verteidigung, ist das wahre Prunkstück von diesem Juventus. Es hat die Qualitäten, die Partie zu Gunsten der Italiener zu entscheiden.
Juventus wird die Tatsache, dass sich Schiedsrichter in grossen Finals kaum trauen, (rote) Karten zu zeigen, ausnützen und hart spielen. Neymar wird für einmal tatsächlich einen Grund haben, sich auf dem Boden zu wälzen. Auch Lionel Messi wird die eine oder andere Grätsche einstecken müssen.
Und natürlich ist da noch Luis Suarez. Der hat es sich in der Vergangenheit bereits mit dem im Finale verletzten Chiellini (Bissattacke) und Evra (Rassismus) verscherzt. Patrice Evra kündigte an: «Ich werde ihm die Hand schütteln. Aber ich werde sicherstellen, dass er auf dem Platz merkt, dass ich da bin.»
Dass Juve zulangen kann, musste im Achtelfinale bereits Borussia Dortmund schmerzhaft erfahren. Piszcek und Sokratis mussten schon nach 45 Minuten im Hinspiel verletzt raus. Die Bild-Zeitung sprach danach von den «Turin-Tretern.» Auch Cristiano Ronaldo machte im Halbfinale mit der kompromisslosen Abwehrarbeit von Juventus mehrmals Bekanntschaft.
Statistiken helfen einem grundsätzlich relativ wenig. Das Spiel beginnt auch dann bei 0:0, wenn du bisher alle Direktduelle gewonnen hast. Und trotzdem schwirrt das irgendwo im Kopf rum. Juventus und Barcelona sind im Europapokal bisher acht Mal aufeinander getroffen. Vier Siege gab es für Juve, dazu je zwei Unentschieden und Barça-Siege.
Das letzte Duell geht auf das Jahr 2003 zurück. Im Halbfinale der Champions-League setzte sich Juventus im Rückspiel dank einem Tor in der Verlängerung von Marcelo Zalayeta 1:2 durch. Torschütze für Barcelona damals: Ein gewisser Xavi, welcher Juventus-Keeper Gigi Buffon zum zwischenzeitlichen 1:1 bezwang.
Mit Andrea Pirlo, Gianluigi Buffon und Andrea Barzagli haben gleich drei Führungsspieler von Juventus ihren grössten Karriereerfolg im Berliner Olympiastadion gefeiert: Den Weltmeistertitel mit Italien gegen Frankreich 2006. Diese Erinnerungen werden präsent sein und sie beflügeln.
Für Buffon könnte sich zudem ein Kreis schliessen. Die Champions League ist das Einzige, was der 37-jährige Torhüter bisher noch nie gewonnen hat. Sollte es ausgerechnet in Berlin klappen? Nach dem WM-Titel in Berlin ging Buffon trotz lukrativer Angebote mit Juventus in die Serie B, nun kehrt er neun Jahre später an den Ort seines grössten Erfolges zurück. Der heutige Abend hat Potential für ein Fussballmärchen.
Juventus ist die einzige Mannschaft, die ohne Niederlage durch die K.O.-Phase der Champions-League gekommen ist. In den sechs Spielen hat Juventus gerade mal drei Gegentore kassiert, gleich viele wie Barcelona bei der Halbfinal-Niederlage gegen die Bayern.
Juventus ist ein Spezialist darin, sich dem Niveau des Gegners anzupassen. Das sorgte für grausame Partien gegen Monaco und für ein Spektakel gegen die Königlichen aus Madrid. Folgt jetzt gegen Barcelona das Meisterstück?
Selbstverständlich ist Barcelona zu Recht Favorit. Über Hin- und Rückspiel hätte Juventus sogar noch bedeutend geringere Chancen. In 90 Minuten hingegen können Faktoren wie Unvermögen, der Schiedsrichter und vor allem die Tagesform entscheiden.
Sollte Juventus einen guten Tag erwischen, dann könnte es tatsächlich klappen mit dem grossen Coup. Andererseits hat der FC Barcelona die Qualitäten, um Juventus aus dem Olympiastadion zu schiessen.
Eines ist sicher, Juventus wird den Kampf annehmen oder um es mit den Worten von Gianluigi Buffon auszudrücken: «Wir fahren nicht als Touristen nach Berlin!»