Zahlen lügen nicht. Angewendet auf die Torausbeute der Schweizer Nationalmannschaft in diesem Jahr heisst das: In vier von acht Spielen blieb die Schweiz torlos, nur beim 2:1-Testspielsieg gegen Fussballzwerg Moldawien gelang mehr als ein Tor. Von den insgesamt fünf Toren wurden nur zwei von Stürmern erzielt, beide von Admir Mehmedi. Die Quintessenz: Trainer Vladimir Petkovic hat ein Stürmerproblem.
Das eingangs erwähnte Sprichwort kann ergänzt werden: Zahlen lügen nicht. Sie sind nur nie die ganze Wahrheit. Was mit Blick auf die Schweizer Nationalmannschaft heisst: Schuld an der Torflaute sind nicht allein die Stürmer.
Michael Lang mit Muskelfaserriss im rechten Oberschenkel abgereist - Silvan Widmer rückt morgen nach. #SUIPOR pic.twitter.com/YILJRiL1H8
— nationalteams_SFVASF (@SFV_ASF) 2. September 2016
Haris Seferovic plädiert naturgemäss für Letzteres: Er ist der Stürmer unserer Nationalmannschaft – und niemand ist gerne alleine schuld. «Fussball ist ein Mannschaftssport. Wir haben zusammen Erfolg und zusammen Misserfolg», sagt er.
Trotzdem verkörperte Seferovic an der EM das grosse Problem der Schweizer: Der 24-Jährige hatte gegen Albanien und Rumänien genug hochkarätige Chancen, um sich bereits nach den ersten beiden Gruppenspielen den Titel des Torschützenkönigs zu sichern. Aber er vergab sie alle. Das gleiche Bild im Achtelfinal gegen Polen, als die Schweiz während den 120 Minuten vor dem Penaltyschiessen Chancen für mehrere Spiele hatte.
Etwas ändern an seinem Status dürfte dies indes nicht: Seferovic wird am Dienstag gegen Portugal als gesetzter Stossstürmer in die WM-Qualifikation starten. Er muss sich wenig Sorgen um seinen Stammplatz machen.
Aus drei Gründen: Erstens waren die meisten der sieben Treffer, die Seferovic in der Nationalmannschaft erzielt hat, spielentscheidend. Zweitens verändert Vladimir Petkovic per se wenig. Und drittens kann die interne Konkurrenz Seferovic derzeit nicht das Wasser reichen.
Josip Drmic befindet sich nach einem Knorpelschaden im Aufbau. Eren Derdiyok rückte wegen einer Magen-Darm-Grippe verspätet ins Nati-Camp ein. Shani Tarashaj hat es bei Everton in den ersten drei Saisonspielen nicht ins Aufgebot geschafft und wechselte deshalb leihweise zu Frankfurt. Breel Embolo und Admir Mehmedi sind eher auf dem Flügel eingeplant. Andere Kandidaten wie Michael Frey, Marco Schneuwly oder Mario Gavranovic sind nicht aufgeboten.
Aber zurück zu Seferovic. Der sitzt am Dienstag lässig im Klubraum neben dem Spielfeld des FC Freienbach, wo sich die Nationalmannschaft auf das Portugal-Spiel vorbereitet. Er versucht gar nicht erst, seine geringe Lust auf Journalisten zu überspielen.
Angesprochen auf die versiebten Chancen an der EM, sagt er: «Es bringt nichts, zurückzublicken. Es geht weiter.» Hat er etwas gelernt in Frankreich? Macht er künftig etwas anders? «Noch konzentrierter und kühler im Kopf sein, noch genauer zielen.» Kann man Tore schiessen lernen? «Man kann es oder kann es nicht. Man hat Glück oder man hat kein Glück. Momentan habe ich nicht so viel Glück.» Sieht er sich als Stürmer Nummer 1 in der Nationalmannschaft? «Das müssen Sie den Trainer fragen.»
Gut möglich, dass in seinen Worten die vergangene Saison nachklingt. Nach einem starken ersten folgte ein schlechtes zweites Jahr bei Eintracht Frankfurt. Dazu kam das schwierige Verhältnis zu Trainer Armin Veh. Der liess Seferovic zwar spielen, menschlich aber waren sie weit voneinander entfernt.
Im Januar kam es schliesslich zum Eklat: Veh watschte seinen Stürmer öffentlich wegen dessen Egotrips ab: «Wenn sich einer über die Mannschaft stellt, dann geht das nicht.» Aber eben, spielen liess er ihn doch immer. Weil Seferovic auch torlos sehr wertvoll sein kann für das Team: Er geht weite Wege, hat ein gutes Spielverständnis und ein grosses Kämpferherz.
Kurz vor Saisonende wurde Veh entlassen, es übernahm Niko Kovac. Und der Kroate stellte den Wert von Seferovic gleich klar: «Er ist ein Krieger, ich brauche im Abstiegskampf solche Leute.» Seferovic dankte es mit dem entscheidenden Tor im Barrage-Rückspiel in Nürnberg – Frankfurt blieb in der Bundesliga.
Auf das Hoch folgte sogleich das Tief – ein roter Faden in der Karriere des U17-Weltmeisters. Im EM-Vorbereitungsspiel gegen Belgien flog Seferovic wegen Schiedsrichterbeleidigung vom Platz. In Frankreich liess er jegliche Coolness vor dem Tor vermissen.
Auch die neue Saison begann unglücklich: Erst musste er sich einen Backenzahn rausnehmen lassen, was ihn seinen Stammplatz in Frankfurt kostete. Zudem hätte die Eintracht Seferovic verkauft, wenn ein gutes Angebot reingeflattert wäre. Jetzt, wo das Transferfenster geschlossen ist, wollen die Hessen den 2017 auslaufenden Vertrag verlängern. Weil so wieder Geld zu verdienen ist mit dem Spieler.
Was sagt Seferovic zu den Wechseldiskussionen? «Ich denke nur vorwärts. Es zählt das Spiel gegen Portugal.» Erzielt er wieder einmal ein entscheidendes Tor, sind die vergebenen Chancen an der EM schon fast vergessen.