Anfang September. Autobahneinfahrt Pistoia. Wir sind erst eine Stunde im Auto Richtung Norden unterwegs. Überholen aber bereits den achten Kleinbus eines Juventus-Fanklubs. Natürlich haben sie alle das gleiche Ziel: das Juventus Stadium. Hinter sich haben sie den Ferragosto mit quengelnden Kindern an überfüllten Stränden. Dieser vermaledeite Sommer. Kein Fussball und viel zu heiss. Aber jetzt sitzen sie mit feuchten Händen in einem Endorphin-Käfig. Vor sich das grosse Glück. Nur noch 364 Kilometer bis zum Rendez-vous mit der grossen Liebe.
Der Pizzaiolo des Vertrauens stammt aus Kalabrien. Der Vater der Arbeitskollegin aus Triest. Eros Ramazzotti aus Rom. Gianna Nannini aus Siena. TV-Showmaster Mike Bongiorno ist in New York geboren und in Monaco gestorben. Mein Freund kommt aus Bern. Und der Freund des Freundes aus Bern heisst Mimmo Locascuilli. Ein linker Liedermacher. Und Römer. Alle diese Menschen teilen sich mit 200 Millionen anderen Menschen die Braut: Juventus Turin – la fidanzata d’Italia.
In Dortmund einen Bayern-München-Fan zu finden gestaltet sich etwa so schwierig wie Marmor zu verbrennen. Aber ausgerechnet in Italien, dem in einen reichen Norden und einen armen Süden gespaltenen Land, eint ein Fussballklub aus dem Norden die Menschen.
Sicher, Juventus ist mit 33 Titeln Rekordhalter. Juventus hat 85 und 96 die Champions League gewonnen. Und Juventus ist 82 quasi Weltmeister geworden. Zoff, Cabrini, Gentile, Scirea, Tardelli und Rossi – mehr als die halbe Stammelf der Squadra Azzurra spielte für Juve. Doch die Anziehungskraft kann nicht nur auf die erfolgreiche Geschichte reduziert werden. Denn Juve ist mehr als ein Titelmonster. Juve ist eine Projektionsfläche.
Aber Juve steht auch für Furbizia, sich durchmogeln. Nur gilt für das ganze Land. Ausserdem ist dieser Begriff in Italien nicht negativ behaftet. Im Gegenteil. Die Steuerbehörde oder den Arbeitgeber zu bescheissen ist Volkssport. Und wir in der Schweiz finden es in Ordnung, wenn die in Italien unten das machen. Den Italienern, diesen charmanten Schlingeln, verzeihen wir alles. Oder hat sich schon mal jemand darüber empört, dass Sie nach Berlusconi-Land fahren? Reisen ins Bush- oder Trump-Land können schon mal abendfüllende Diskussionen zur Folge haben.
Der Fussball ist die Antithese zum Leben in Italien. Denn so wie das Leben funktioniert, müsste Italien brasilianisch spielen. Wild, offensiv, mit heissem Blut und wenig Ordnung. Doch Italien würde selbst ohne Torhüter nie 1:7 gegen Deutschland verlieren.
Italien hat sich in einem trägen Beamten-Dschungel verirrt. Eine Bank zu finden, die Bargeld wechselt, ist nicht viel einfacher, als eine Vespa auf die Tribüne des Mailänder Fussballtempels San Siro zu hieven. Der Fussball indes basiert auf Ordnung, Disziplin, Taktik und Verlässlichkeit. Und der Inbegriff dieses tugendhaften Fussballs ist Juventus Turin.
Preussischer als Hertha Berlin. Und vielleicht gerade deshalb eine Projektionsfläche. Denn: Auch wenn sich Deutschland im Fussball gegen Italien immer schwer tut, sehnt man sich auf dem Stiefel insgeheim doch nach deutschen Tugenden.
Objektiv betrachtet war Juventus nicht immer schön. Phasenweise war es sogar richtig ekelerregend. Beispielsweise, als bekannt wurde, dass Juventus Spiele (mit Geld) und Spieler (mit Doping) manipuliert. Aber der objektive Blick auf Juventus ist so überflüssig wie eine Hochzeitsnacht in einem vollbesetzten 20er-Schlag. Geahnt haben wir es zwar schon immer. Zu wissen brauchten wir es nicht. Italien halt: Alles halb so schlimm, da kann so etwas schon mal vorkommen. Und Schwamm drüber.
Planung, Ordnung und Disziplin sind Teil der Klub-DNA. Das sieht nicht immer so toll aus. Ist aber effizient und erfolgreich. Und in dieser Saison sogar schön. Mehr noch: Die Juventus-Ausgabe von Trainer Massimiliano Allegri ist umwerfend. Defensiv stabil, offensiv spektakulär. Dazu kommt der grosse Hunger auf Titel, die mannschaftliche Geschlossenheit, die Abgeklärtheit, das Selbstbewusstsein. Juve hat alles, um die Galaktischen von Real Madrid im Champions-League-Final am Samstag in Cardiff auf den Boden zu drücken.
Juves Massanzug sitzt perfekt. Dabei schaut Allegri häufig so gequält in die Kameras, als hätte sein Sohn ungenügende Noten nach Hause gebracht. Wobei Max – so nennen sie ihn in Italien – aussieht, als sei er nach der Uni-Abschlussfeier kaum gealtert. Man könnte ihn sich auch sehr gut als zuverlässigen Beamten vorstellen. Aber Allegri hat es faustdick hinter den Ohren.
Aufgewachsen ist er in Livorno, der Hochburg der Kommunisten. Aber Fussball interessierte ihn mehr als Politik. Allegri hat Talent, aber wenig Ehrgeiz. Faulheit, lautet der Vorwurf. Er sorgt für Aufsehen, wenn er nicht Fussball spielt. So, als er seine Braut am Altar stehen lässt. Oder, als er nach einem Wortgefecht mit Carabinieri zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wird. Aber auch Max wird erwachsen. Okay, sehen wir mal von der Affäre mit einem italienischen Playmate ab, während Claudia die Windeln des gemeinsamen Sohnes wechselt – Privatsache. Hauptsache: Allegri ist ein überragender Trainer und er ist bei Juve.
Genauso irrelevant wie Allegris Techtelmechtel ist, ob Torhüter Gigi Buffon schon mal absichtlich einen Treffer kassiert hat, ein leidenschaftlicher Gambler ist oder schon mal rechtes Gedankengut wiedergegeben hat. Wir reden von Gigi, 39-jährig, eine göttliche Legende, er hat Narrenfreiheit.
Uninteressant ist auch, ob man sich Haudegen Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci sehr gut hinter einer Fleischertheke vorstellen kann. Interessant ist hingegen, dass aus allen Poren ihrer Körper der juvetypische Duft des Erfolgs strömt. So bedingungslos, wie sie sich der Marke unterwerfen, erwarten sie das auch von ihren Kollegen. Siehe da: Selbst ein Ego-Shooter wie Mario Mandzukic wird in Turin zum Teamplayer.
Kurzer Blick zum Fan-Bus aus Pistoia: Das ist doch nicht etwa Zinédine Zidane, der am Steuer sitzt?