August 2016. Amerika geniesst den Sommer, Präsident Obama versprüht auf seiner Ehrenrunde noch einmal Zuversicht und im Fernseher wird hochfrequent die kommende Footballsaison beworben. Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude.
Nur einer vermiest den idyllischen Sommer: Colin Kaepernick, der Quarterback der San Francisco 49ers. Aus Protest gegen die Polizeigewalt gegenüber Schwarzen bleibt er bei den Vorbereitungsspielen während der Nationalhymne sitzen: ein Affront sondergleichen in den USA. Es wird als Respektlosigkeit gegenüber dem Vaterland ausgelegt – insbesondere gegenüber Soldaten.
Die Aufruhr ist gross. Ausgerechnet Kaepernick! Der Sohn einer Teenage-Mutter und eines Afroamerikaners wurde nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Rick und Teresa Kaepernick nahmen den Jungen auf und Colin wurde das jüngste Mitglied der fünfköpfigen weissen all-American Kaepernick-Familie.
Colin fiel schon früh als herausragendes Sporttalent auf. Was immer der Junge im Sport anfasste, wurde zu Gold: In seinem letzten Jahr an der Highschool schaffte er die Nomination für die kalifornische Auswahl nicht nur im Football, sondern auch im Basketball – und im Baseball.
Doch ausserhalb der Sportplätze musste Kaepernick hartes Brot essen. Betrat er mit seinen Geschwistern ein Hotel, wurde er von den Angestellten nicht als Familienmitglied wahrgenommen. Unter Weissen fiel er mit seiner Hautfarbe auf, unter Afroamerikanern verriet ihn seine typische weisse Mittelstandssprache. «Er ist der Zaun zwischen den beiden Welten», beschrieb ihn einmal Teamkollege John Bender.
2009 wurde er vom MLB-Team der Chicago Cubs gedraftet. Die Tür zum professionellen Baseball stand weit offen. Doch bereits hier zeigte sich Kaepernicks Charakter: Er entschied sich gegen das lukrative Angebot, um eine Football-Karriere anzustreben. Drei Jahre später warf er seinen ersten Touchdown-Pass für die San Francisco 49ers. 2013 führte er sie bis in den Superbowl.
Und jetzt wagt es ausgerechnet diese Personifizierung des amerikanischen Traums, diese Drehbuchvorlage für Hollywood, aufzumurren. Undankbarkeit ist noch das Geringste, was Kaepernick in diesem Sommer vorgeworfen wird.
Zu Kaepernicks Kritikern gehört auch ein gewisser Nate Boyer. Der Kriegsveteran und ehemalige Green Beret durchlief ein nicht minder hollywoodreifes Leben: Auf der Sinnsuche hauste er in seinen 20er-Jahren in einem Honda Civic auf den Strassen von Los Angeles.
Dort las er über den Genozid in Darfur, packte seine wenigen Sachen und flog an die sudanesische Grenze, wo er Hilfsgüter an Flüchtlinge verteilte. Später trat er in den Militärdienst ein, wurde Green Beret und diente sechs Jahre im Irak und in Afghanistan. Und als ob das nicht reichte, gelang es Boyer, nach seiner Rückkehr zuerst College- und dann NFL-Footballspieler zu werden.
Als ehemaliger Soldat fühlte sich Boyer von Kaepernicks Geste besonders betroffen. Statt seiner Wut freien Lauf zu lassen, suchte er das Gespräch, mit einem offenen Brief und unter vier Augen: «Als Veteran verärgert mich mehr, aus dem Krieg nach Hause zu kommen und zu sehen, wie gespalten unser Land ist, als dass einer bei der Hymne nicht aufsteht. Ich muss nicht gleicher Meinung sein wie er. Aber er hat das Recht, zu protestieren. Und für dieses Recht bin ich in den Krieg gezogen.»
Kaepernick hatte zuvor erklärt, er werde seinen Protest erst einstellen, wenn er eine signifikante Verbesserung der Situation der Afroamerikaner festellen würde. Doch die Aussprache mit Boyer trug Früchte. Der Footballer bliebt fortan nicht einfach auf dem Bänkchen sitzen. Er begann damit, während der Hymne ein Knie auf den Boden zu setzen.
Dieses Zeichen hatte ihm Boyer nahegelegt, der diese Geste als Ehrung von Kriegsveteranen im Militär kennengelernt hatte. Und so verwandelte sich die kindlich wirkende Trotzaktion – Amerikas Liebe zum Pathos sei Dank – zu einer bedeutungsschwangeren Geste. «Das ist grösser als Football. Es wäre egoistisch einfach wegzuschauen», erklärte Kaepernick.
Dass er damit eine derartige Lawine lostreten würde, war dem Starspieler damals sicherlich nicht bewusst. Doch seit letztem Sommer hat sich einiges verändert. Präsident Obama, der Kaepernicks Protest öffentlich würdigte, ist nicht mehr im Amt. Mit ihm verschwunden ist auch der gute Ton.
Der neue Präsident distanziert sich nicht von seinen Nazi-Anhängern. Afroamerikanische Idole wie NBA-Superstar Stephen Curry verweigern deshalb den Besuch im Weissen Haus. Der Präsident reagiert damit, Footballer, welche sich solidarisch zeigen, in einer öffentlichen Ansprache «Hurensöhne» zu nennen. Er tut dies zwar indirekt – indem er einen imaginären Besitzer eines Footballteams imitiert – , der Fall ist aber klar.
Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen: Der amerikanische Präsident tituliert einen Footballer, der sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt, indirekt als «Hurensohn», gewalttätige Nazis hingegen bezeichnet er als «gute Leute».
Und was macht Colin Kaepernick? Der Quarterback hat seinen Vertrag mit den 49ers aufgelöst und sucht nach einem neuen Arbeitgeber. Nicht wenige glauben, dass dem talentierten Mann seine Protesthaltung in die Quere kommt. Eine andere Theorie hat Präsident Trump: Die Teambesitzer würden die präsidialen Tweets fürchten und deshalb Kaepernick nicht unter Vertrag nehmen, prahlt er.
Die Lawine, die der Quarterback letzten Sommer auslöste, rollt indes unaufhaltsam weiter. Sie scheint Kaepernicks Karriere zu überdauern. Und sie ist wahrlich grösser als Football.