Meistertrainer Lars Leuenberger ist noch immer ohne Job. Kevin Schläpfer wurde entlassen. Berührt Sie das Schicksal Ihrer Schweizer Trainerkollegen?
Arno Del Curto: Ja sicher. Es wäre schön, wenn die Schweizer Trainer in der Schweiz auch arbeiten dürften. Es gibt ja auch noch andere. Aber was soll ich da machen?
Haben Sie eine Erklärung dafür, dass das heimische Schaffen derzeit einen so schweren Stand hat?
Das Vertrauen fehlt. Der Prophet im eigenen Land zählt sowieso nichts. Uns fehlt diesbezüglich die Kultur – das sage ich schon lange.
Also vertraut die Schweiz dem Schweizer Schaffen nicht. Ist es so hart?
Natürlich muss man gut sein. Natürlich muss man auch in schlechten Phasen vor seine Mannschaft treten können. Da muss man bestehen können. Und das in einem Business, das einem kaum Zeit gewährt. Ich vermute, dass es bei uns viele Entscheidungsträger in den Klubs gibt, die einem Schweizer dieses Krisenmanagement nicht zutrauen.
Ist das der Ausdruck des fehlenden Schweizer Selbstvertrauens – auch ausserhalb des Sports?
Diese Frage kann ich nicht beantworten.
Oder anders gefragt: Ist das fehlende Vertrauen ins einheimische Schaffen auch ein wenig symptomatisch für den Ist-Zustand unseres Eishockeys? Wir befinden uns auf Stufe Nationalmannschaft ja in einer mittleren Identitätskrise...
Ich werde das in der letzten Zeit oft gefragt. Aber ich bin da nicht die richtige Auskunftsperson. Ich wiederhole nochmals: Als Trainer brauchst du eine Vision, Feuer, Leidenschaft, Energie, Fachwissen und noch vieles mehr. Ein Ziel, das alle erreichen wollen.
Schauen wir es umgekehrt an: Was können wir von den Kanadiern lernen, die stets mit einem unglaublichen Selbstvertrauen und Selbstverständnis auftreten?
Von den Trainern rede ich hier jetzt nicht. Aber die Spieler haben eine ganz andere Ausgangslage. In Kanada ist Eishockey in der Kultur tief verwurzelt. Wenn du dort gut spielst, bist du fast so angesehen wie der Staatspräsident. Die Konkurrenz und der Verdrängungskampf sind riesig. Du kannst dir keine Auszeiten nehmen, sonst bist du weg vom Fenster.
Sie sagen oft, es geht uns in der Schweiz zu gut. Aber auch den Kanadiern geht es ja nicht schlecht.
Ja. Aber so gut wie unser Land funktioniert – finanziell, politisch, sozial, ist das eine schlechte Basis für den Mannschaftssport. Wir haben alles, wir müssen nicht kämpfen. Wir haben 250 Spieler, die für 12 NLA-Klubs infrage kommen. Nicht 700. Das macht die Arbeit in der Schweiz schwieriger. Daran sind weder die Spieler noch die Klubs schuld. Das ist ein gesellschaftliches Phänomen. Aber eben: Eigentlich ist es ja gut, dass es uns gut geht...
Was kann denn ein 17-Jähriger bei uns von einem Supertalent wie Auston Matthews lernen?
Ein 17-Jähriger muss nichts lernen von Matthews. Er muss alles daransetzen, so gut zu sein wie Matthews. Dass er in der NHL auch im ersten Block spielt und 10 Millionen verdienen kann. Auch wir haben Ausnahmetalente bei uns. Aber bei uns driftet es mit der Zeit ab. Was soll ich jeden Tag noch zusätzlich eine Stunde Schuss- und Techniktraining machen? Wieso soll ich jeden Tag noch Zusatzschichten im Kraftraum schieben? Wieso soll ich mir zu Hause noch Gedanken machen über das Spielsystem? Und so weiter. Bei uns hat das kein Spieler nötig.
Womit wir wieder bei der Kultur wären...
Schauen Sie nur, was bei Bayern München passiert ist, seit Pep Guardiola weg ist mit seiner Leidenschaft, Energie und Akribie. Ich komme da gerne wieder mit meiner Symphonie: Wenn da nicht alle mitziehen, kann sie nicht vollendet werden.
Wieso fehlt uns dieses Bewusstsein?
Wir wissen nicht, wie geil es ist, wenn man das Beste vom Besten aufs Parkett bringt. Auch wir versuchen, schon im Nachwuchs diese Mentalität reinzubringen. Aber wir erleben immer wieder Rückschläge.
Weshalb?
Es ist extrem schwierig. Aber wir müssen es trotzdem mal hinkriegen.
Und wie?
Intern mache ich das schon bei uns in Davos. Aber nicht in der Öffentlichkeit. Auch wenn das für euch Journalisten natürlich ein gefundenes Fressen wäre. Am Schluss kommt alles anders heraus. Es fühlt sich sofort jemand betupft.
Aber ist nicht genau das der Punkt: Dass es niemand wagt, die unbequeme Wahrheit auf den Tisch zu legen. Dass wir zu lieb sind miteinander?
Ja, das ist sicher so.
Ist es denn für Sie schwieriger geworden, Ihre Spieler zu kritisieren?
Die sozialen Medien, die Einflüsse von aussen haben viel verändert. Der Mensch ist leider anders geworden.
Inwiefern?
Er hat gelernt, Informationen zu filtern, auch mal die Ohren auf Durchzug zu stellen. Das Unangenehme auszublenden. Das konnten wir früher nicht. Heute werden selbst Hierarchien infrage gestellt. Aber da kann man nichts machen. Das sind unsere Wohlstandssymptome.
Sind Sie desillusioniert?
Nein, das würde ich nicht sagen. Ich versuche, dagegen anzukämpfen. Desillusioniert wäre ich, wenn ich nicht mehr daran glauben würde, das zu erreichen, was mir in meinem Kopf vorschwebt. Ich weiss, dass ich die perfekte Symphonie nie hinbringen werde. Aber ich versuche, das Maximum herauszuholen. Vielleicht bin ich aber auch nur ein Fantast, der darauf hofft, dass er sein Ziel doch noch erreicht.
Wie sehr mussten Sie sich als Trainer an die neuen Begebenheiten anpassen?
Ich passe mich nie richtig an. Aber ich verliere öfters. Und ich muss öfters wieder von vorne anfangen. Das Ei des Kolumbus hätte ich schon gefunden. Aber es wäre mit so viel Schmerz verbunden, dass ich diese Lösung nicht realisieren kann.
Versuchen Sie doch mal, Ihr Ei zu erklären.
Grundsätzlich wäre es nötig, dass alle einer Vision konsequent folgen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Bei uns in Davos haben die Jungen, die in die erste Mannschaft kommen, oft keine Ahnung davon, was es braucht, um ein Spiel zu gewinnen. In den wichtigen Momenten auf dem Eis, die richtigen Entscheidungen zu fällen. Das können die nicht. Ich habe oft den Eindruck, dass bei den Junioren einfach mal gespielt wird. Und wenn Kritik geübt wird, dann erfolgt gleich der mentale Zusammenbruch, gibt es gleich Probleme. Das ist sehr ausgeprägt bei uns. Wenn ich daran denke, dass die NLA-Klubs jährlich zwischen 10 und 20 Millionen Franken ins Eishockey investieren, dann muss am Ende schon mehr herausschauen. Wir sind grundsätzlich alle auf dem richtigen Weg, aber leider viel zu langsam.
Fehlen uns Typen wie Reto von Arx?
Die gibt es nicht mehr, weil sich – wie erwähnt – unsere Gesellschaft gewandelt hat.
Wie wirkt sich das mittelfristig auf unsere Nationalmannschaft aus? Die aktuelle Tendenz ist ja nicht vielversprechend...
Vergessen Sie den letzten Deutschland-Cup! Das Abschneiden dort hat keine Aussagekraft. Wenn ich Nationaltrainer wäre, dann hätte ich euch Journalisten vor diesem Turnier gesagt: «Bleibt zu Hause, die Resultate meiner Mannschaft interessieren mich nicht.» Ich hätte junge Spieler mitgenommen, die dann aber hätten Vollgas geben müssen. Dass die etablierten Cracks nicht an ihre Grenzen gehen, ist doch logisch und richtig. Es ist zu viel los. Meisterschaft, Cup oder, wie in diesem Jahr, die Champions League, die unmittelbar vor und nach dem Deutschland-Cup stattfand. Das kann nicht aufgehen. Was denken denn die Leute?
Haben Sie das Kapitel Nationaltrainer eigentlich abgeschlossen?
Da bin ich völlig überfragt. Daran verschwende ich keinerlei Gedanken.
Mit Davos wurden Sie sechsmal Meister. Was wollen Sie noch erreichen? Wie sehen Ihre Herausforderungen aus?
Man muss mit dem, was man macht, zufrieden sein. Ich möchte den HC Davos mit unseren vielen jungen Spielern nochmals an die Spitze bringen. Es kann aber auch sein, dass ich mal eine Mannschaft übernehmen möchte, die eher zu den Aussenseitern gehört. Oder eine andere Nationalmannschaft... Italien, Montenegro oder was auch immer. Das ist aber eine Spielerei, die ihr Journalisten gerne machen dürft. Wichtig ist, eine Vision zu haben. Wo und wie man die umsetzt, ist letztlich unerheblich.
Letztes Jahr hatten Sie die Vision Champions Hockey League. Ihr Team ist diesmal früh ausgeschieden, und doch stehen drei Schweizer Mannschaften im Viertelfinal. Wie ist das einzuschätzen?
Ich werte das positiv. Alle deutschen Mannschaften sind draussen, alle Österreicher – sogar alle finnischen Teams. Dass sich zum Beispiel Fribourg-Gottéron gegen eine finnische Mannschaft durchgesetzt hat, ist sehr hoch einzuschätzen. Auch unser Auftreten letzte Saison mit der Halbfinal-Qualifikation war schon bemerkenswert.
Haben Sie eigentlich eine Schwäche, die Sie gerne bei sich eliminieren möchten?
Meinen Sie wirklich, ich breite hier in diesem Interview meine Schwächen aus?
Gibt es nichts, was Sie an sich verbessern möchten? Darf man das nicht als Trainer?
Natürlich darf man Fehler haben...
...aber?
Deswegen ist das doch keine Schwäche. Man muss Fehler eingestehen können und sie sofort korrigieren.