Ein rechter Brocken ist er, dieser Unspunnenstein: 83,5 Kilogramm schwer. Und er ist ein Symbol für das Bernbiet, ach was: für die ganze Deutschschweiz. Zumindest sehen das die Béliers so, eine Separatistengruppe aus dem Jura. Sie haben den Stein deshalb nicht nur einmal entführt, sondern gleich zwei Mal. Seit 2005 gilt er (wieder) als verschollen.
Dass der allererste, der 184 Pfund schwere Originalstein aus dem Jahr 1805, verschwunden ist, das haben die Interlakner indes sich selber zuzuschreiben. Offenbar hatten die Ausrichter des ersten Unspunnenfests im Stück Fels noch keine immens grosse Bedeutung erkannt. Nicht wie Ueli Bettler, der aktuelle OK-Präsident. Für ihn ist der Stein «ein Symbol für die Freiheit und die Eigenheit der Schweiz». So diktierte er es unlängst in den Notizblock eines NZZ-Reporters.
Bei der zweiten Austragung des Unspunnenfests im Jahr 1808 hantierten die Steinstösser mit einem etwas leichteren, 167 Pfund schweren, Stein. Dessen rechtmässiger Besitzer, der Turnverein Interlaken, nimmt an, dass ihn anschliessend ein Bauer zum Schleifen seiner Sensen benutzt hat. Es ist dieser Stein, mit dem ein Stück Schweizer Geschichte verbunden ist.
Als nach fast hundert Jahren Unterbruch 1905 erneut ein Unspunnenfest stattfand, tauchte dieser Stein wieder auf. Viele Jahre zogen ins Land, Unspunnenfeste fanden in unregelmässigen Abständen statt, geworfen wurde stets mit dem 83,5 Kilogramm schweren Stein von 1808.
Bis am 3. Juni 1984 ein «Anschlag auf eine Tradition» verübt wird. So bezeichnet der damalige OK-Präsident des Unspunnenfests den Diebstahl durch Béliers. An diesem Sonntagmittag wird die Frau an der Kasse zum Touristikmuseum in Unterseen, wo der Stein ausgestellt ist, abgelenkt und vier französisch sprechende junge Männer werfen den Stein aus dem ersten Stock. Sie stehlen ihn und verstecken ihn im Hasenstall eines Anführers der Béliers.
Für die Nachrichtenagentur SDA handelt es sich nicht um einen «Anschlag», sondern bloss um einen «Streich». Nur zwei Tage zuvor hatten die Béliers in Les Rangiers ein Soldatendenkmal, den «Fritz», zerstört. Die jungen Widerstandskämpfer setzten sich ab der Gründung des Kantons Jura im Jahr 1979 dafür ein, dass auch die anderen beim Kanton Bern verbliebenen französisch-sprachigen Gemeinden in den neuen Kanton integriert werden.
Sogar der Bundesrat muss sich zum Diebstahl äussern. Die Zerstörung des Denkmals und die Entführung des Steins seien zwar «unschweizerisch», lässt die Landesregierung verlauten, sie sehe den Frieden in der Schweiz aber nicht schon als gestört an. Fünf Jahre nach dem Diebstahl wird die Kriminalakte geschlossen, weil das Delikt verjährt ist.
In der Zwischenzeit müssen die Älpler Ersatz beschaffen. Sie finden ihn, wenngleich die Kopie nicht aus Aaregranit wie beim Original ist, sondern aus Habkerngranit. Ein Steinmetz bearbeitet die Kopie so, dass sie in Form und Gewicht dem ursprünglichen Stein so nahe wie möglich kommt.
Währenddessen geht im Hintergrund die Suche nach dem historischen Stein, den die Jurassier als «grossen Kieselstein» verhöhnen, weiter. Erfolglos. Der Originalstein bleibt verschollen. 17 Jahre lang.
Dann taucht er überraschend wieder auf. Die Béliers überreichen ihn im August 2001 Shawne Fielding, der Gattin des damals bekannten Schweizer Botschafters Thomas Borer, und drei Tage später findet in Interlaken ein Übergabefest statt. Allerdings müssen die Steinstösser feststellen, dass ihr Heiligtum verschandelt wurde: Die Béliers haben ihr Emblem, zwölf Europa-Sterne und das Datum der legendären EWR-Abstimmung (6. Dezember 1992) eingemeisselt.
Der Stein ist also wieder da, aber für Steinstösser-Bewerbe wird er fortan nicht mehr verwendet. Die Sterne schneiden den Sportlern die Hände ein und auch das Gewicht ist nicht mehr, wie es sein sollte. Das Original kommt deshalb ins noble Grand Hotel Victoria-Jungfrau, dort wird es ausgestellt. An einer Eisenkette befestigt, sicher ist sicher.
Doch nicht sicher genug vor den jurassischen Separatisten. Die kommen im Sommer 2005, zwei Wochen vor dem Unspunnenfest, nach Interlaken. Knacken – zack! zack! – die Eisenkette, heben den Stein von seinem Sockel und machen sich aus dem Staub. Filmreif hinterlassen sie eine Botschaft, die sie als Täter kennzeichnet: einen Pflasterstein, rot-weiss bemalt mit dem Jura-Wappen.
Der Unspunnenstein ist seither erneut verschollen. Es ranken sich Legenden um ihn, die so weit gehen, dass es auch schon hiess, er befinde sich in New York. Vielleicht ist er auch zerstört worden. Und vielleicht waren es beim zweiten Mal gar nicht die Béliers; die Polizei vergewisserte sich beim OK-Präsidenten des Unspunnenfests, dass es sich nicht etwa um einen PR-Gag gehandelt hat.
Seit kurzer Zeit gibt es immerhin – falls der Stein noch existiert – neue Hoffnungen, dass er dereinst wieder auftauchen könnte. «Kommt der gestohlene Unspunnenstein zurück?», wird im offiziellen Programm gefragt. Grund zum Optismus könnte ein Abstimmungsresultat aus dem Juni sein. Denn da entschied sich die Bevölkerung des Städtchens Moutier dafür, vom Kanton Bern zum Kanton Jura zu wechseln. Das entspannte die Jura-Frage ein wenig. Wird der Unspunnenstein also zum Tauschpfand, nach dem Motto: «Ihr habt uns Moutier gegeben, also geben wir euch euren Kieselstein zurück?»
Die Kopie, mit der die Steinstösser werfen, wird nirgends mehr ausgestellt. Sie liegt in einem Banktresor in Interlaken. Eine sprengstoffsichere Betonpforte sichert den Eingang zum Keller, in dessen grösstem Schliessfach der Unspunnenstein versteckt wird.
Muss er bewegt werden, bietet die Bank den 46-jährigen Peter Michel auf. Jahrelang war er der beste Steinstösser im Land, dreifacher Sieger des Eidgenössischen und auch am Unspunnenfest erfolgreich. Michel hält nicht viel von Symbolik, vom Gerede über die Freiheit der Schweiz, für welche der Unspunnenstein angeblich steht. Das mit Sternen malträtierte Original bezeichnet er als geschichtliches Objekt und die Kopie ist für ihn nichts anderes als «ein Sportgerät».
So kann man das natürlich auch sehen.
Regionalnationalisten sind das, nicht mehr.
Ich hoffe das sie sich mit den Neuenburgern um den Neuenburger zanken, was sie ja schon angedeutet haben. Dann wird ihnen nicht mehr so viel Verständnis entgegengebracht.
- Roland Béguelin, ein Separatist der ersten Stunde und einer der Gründerväter des Kantons Jura, fiel durch folgende Aussage auf: "... dass die Gemeindebehörden des Berner Jura von Kandidaten mit Deutschschweizer Namen zu reinigen sind“.
- Le Fritz, das Soldatendenkmal, welches die Béliers zerstörten, stand für die Soldaten aus allen Landesteilen, welche im 1. Weltkrieg die Grenze des Juras schützten.
- Der Unspunnenstein war ein Symbol für die Wiedervereinigung der Berner Regierung und des Volkes 1805 nach der Niederlage gegen die Franzosen.