«König Federer», «Champion für die Ewigkeit», «Ihre Majestät» – es ist nur eine kleine Auswahl der Superlative, die auf den Titelseiten der Zeitungen von heute gedruckt wurden. Er hat es ja auch verdient: Roger Federer hat mit dem Gewinn seines 18. Grand-Slam-Titels am Australian Open eine Leistung vollbracht, die ihm viele nicht mehr zugetraut hatten – ich ehrlich gesagt auch nicht. Er hat damit seinen Status als bester Tennisspieler der Geschichte zementiert.
Für unseren Sportchef Reto Fehr genügt das nicht: «Federer ist nicht nur der grösste Tennisspieler aller Zeiten, er ist der grösste Sportler aller Zeiten», schrieb er in seinem Kommentar. Ich kann es teilweise nachvollziehen. Auch ich reagiere immer häufiger abgestumpft bis zynisch auf die Sportwelt mit ihren aufgeblähten Turnieren, Doping-Skandalen, von Geldgier getriebenen Athleten. Eine Welt, die durch den Mammon immer mehr korrumpiert wird.
Federer ist den kommerziellen Aspekten seines Tuns keineswegs abgeneigt, trotzdem wirkt er für viele wie ein Saubermann, ja eine Lichtgestalt. Aber der grösste Sportler aller Zeiten?
Reto hat die Zeiten nicht mehr erlebt, als einer die Massen weit über die Sportwelt hinaus fasziniert hat. Einer, für den man mitten in der Nacht aufstand, um ihn kämpfen zu sehen – auch ich als Primarschüler in den 1970er Jahren. Die Medien waren voll mit Berichten über ihn, ich verschlang sie alle. Er nannte sich selbst «The Greatest» und ist es bis heute geblieben: Muhammad Ali.
Man kann ewig streiten, ob Boxen Sport ist oder nicht. Mit seinem tänzerischen Stil – dem «Ali Shuffle» – und seinem Charisma aber hob Muhammad Ali sich ab von den üblichen Prügelknaben im Ring. Auch seine Erfolge sprechen für sich: Olympiasieger 1960 in Rom, dreifacher Schwergewichts-Weltmeister, Protagonist in einigen der grössten Kämpfe der Geschichte.
Aber Ali war eben nicht nur ein grosser Sportler, er war eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte. Geboren wurde er als Cassius Clay in Louisville (Kentucky) im rassengetrennten Süden der USA. Im Gegensatz zu anderen schwarzen Athleten fand er sich mit der Diskriminierung nicht ab, er kämpfte dagegen, und das nicht etwa bei einer «gemässigten» Organisation. Er schloss sich der radikalen Nation of Islam an, legte seinen «Sklavennamen» ab und nannte sich Muhammad Ali.
Konsequent verhielt er sich auch im schwierigsten Moment seiner Karriere. 1967 verweigerte er das Aufgebot zur Aushebung für den Vietnamkrieg. Er hätte den Weg des geringsten Widerstands gehen und sich der Prozedur unterziehen können – als Boxweltmeister und Idol der Popkultur hätte er wohl nie den Marschbefehl nach Fernost erhalten. Muhammad Ali aber hielt nichts von Opportunismus. Er wolle nicht als Schwarzer in den Krieg des weissen Mannes ziehen, «to go and kill the yellow man», wie es in Bruce Springsteens «Born in the USA» heisst.
Damit erbrachte Ali das wohl grösste Opfer, das ein Sportler überhaupt erbringen kann. Der Weltmeistertitel und die Boxlizenz wurden ihm aberkannt, während seiner besten Jahre als Boxer war er zur Untätigkeit verdammt. Sein Comeback mit zwei weiteren Weltmeistertiteln, die epischen Kämpfe gegen Joe Frazier und George Foreman sowie später die Parkinson-Krankheit und sein Einsatz für einen friedfertigen Islam machten ihn endgültig zur Legende.
Muhammad Ali war ein Grossmaul. Seine höhnischen Sprüche haben ihm Frazier und Foreman lange nicht verziehen. Aber er war auch ein Mensch mit Charakter, der nicht den einfachen, sondern den schwierigen Weg wählte. Was ist Roger Federer im Vergleich? Er ist so nett, dass es wehtut. Etwa als er an der Siegerehrung in Melbourne gönnerhaft erklärte, eigentlich hätte es ein Unentschieden geben müssen. An Rafael Nadals Stelle wäre ich innerlich explodiert.
Federer ist ein Mensch ohne Ecken und Kanten, stromlinienförmig bis zum Gehtnichtmehr. Der grösste «Skandal», den er bislang verursachte, war das zu hoch gebaute Spielhaus für seine Kinder im Feriendomizil auf der Lenzerheide. Ich kann mich an keine bemerkenswerte Aussage von ihm erinnern. Man stelle sich vor, er würde aus Protest gegen die Politik von Donald Trump nicht mehr in den USA antreten. Was für ein Aufsehen würde er damit verursachen!
Natürlich wird er das nie tun, so wie heute kaum ein Sportler bereit ist, gegen den Mainstream zu schwimmen. Muhammad Ali hat dies gemacht, ohne Rücksicht auf Verluste, deshalb ist er jene Ausnahmeerscheinung, die wahre Grösse ausmacht. Als ich im letzten Herbst, wenige Monate nach seinem Tod, den Süden der USA bereiste, machte ich extra einen Umweg nach Louisville. Es ist keine Stadt, die man gesehen haben muss, aber das Muhammad Ali Center mit dem Museum, das die Stadt ihrem grossen Sohn errichtet hat, konnte ich mir nicht entgehen lassen.
Roger Federer ist ein herausragender Tennisspieler. Doch selbst wenn er noch zehn Grand-Slam-Turniere gewinnt, er wird niemals «The Greatest» sein. Für diese Bezeichnung kann und wird es immer nur einen geben.