Nach 15 Jahren im GP-Zirkus sei er nicht mehr aggressiv genug, um die «wilden Jungen» im Schach zu halten. Das ist eine oft gehörte Kritik an Tom Lüthi. Mugello hat uns etwas Anderes gezeigt: Die Aggressivität auf der Rennpiste hat nicht nachgelassen – aber Lüthi kombiniert sie mit der Gelassenheit eines Champions. Deshalb hat er nach einem heftigen Dreikampf Platz 2 geholt, deshalb hat er eine neue Rekordrunde gefahren und deshalb hat er vor allem den Rückstand im Gesamtklassement auf WM-Leader Franco Morbidelli (22) von 20 auf 13 Punkte verringert. Titelfavorit? Tom Lüthi.
Lüthi stellt gestern Nachmittag sein Bike auf den 4. Startplatz in die zweite Reihe. Ein Kampf um den Sieg scheint nicht möglich. Beim Warm-Up, dem 20-minütigen Einfahren heute Morgen, sieht es nicht einmal mehr nach einem Spitzenplatz aus. Es reicht gerade für Position 7 und Lüthi schaltet sogar einen Boxenstopp ein – was in einen Warm-Up äusserst selten geschieht. «Zweimal ist mir das Vorderrad eingeklappt und ich wäre beinahe gestürzt. Da entschied ich mich zur sofortigen Rückkehr an die Box, um herauszufinden, was los ist.»
Wenn in solchen Situationen Hektik aufkommt, gehen Rennen verloren. Lüthi findet zusammen mit Cheftechniker Gilles Bigot die Lösung. Er sagt, die Erfahrung habe ihm geholfen, die Ruhe zu bewahren. «Cool bleiben, das ist entscheidend.» Die Gelassenheit eines Champions. Es ist die Erfahrung aus 238 Grand Prix. Keiner seiner Konkurrenten ist so viele Rennen gefahren.
Dem Emmentaler gelingt eines der besten Moto2-Rennen seiner Karriere. Er kann in der letzten Runde sogar die Führung übernehmen und wird schliesslich von Mattia Pasini nur um 0,052 Sekunden besiegt. Der Italiener fährt das Rennen seines Lebens und gewinnt im 86. Anlauf sein erstes Moto2-Rennen – es ist auch sein erster Podestplatz in dieser Kategorie. Er war auf einer Mission. Unbesiegbar. Unantastbar. Unbeirrbar. Lüthi sagt: «Ich konnte die Führung nicht verteidigen. Ich wusste, dass er versuchen wird, sich an dieser Stelle innen durchzuzwängen. Aber ich konnte die Türe nicht zumachen. Mein Fehler? Ich würde eher sagen: seine Stärke.»
Auch vor zwei Wochen ist Tom Lüthi in Le Mans auch aufs Podest gefahren (3.). Doch der Unterschied zwischen diesen zwei Rennen könnte grösser nicht sein. In Le Mans kann er seine Enttäuschung bei der offiziellen Medienkonferenz nur mühsam verbergen. Nach der Trainingsbestzeit hatte es ausgerechnet auf seiner Lieblingsstrecke, auf der er bereits viermal gewonnen hat, «nur» zu Platz 3 gereicht. Jetzt in Mugello ist er gelöst, schon fast ausgelassen und sagt, er freue mich riesig über diesen zweiten Platz. Es sei ein harter Kampf gewesen. Wie schon in Le Mans. «Aber nun kämpfte ich mit meinen Gegnern – und nicht mit meiner Maschine.» Er holt seinen 52. Podestplatz, den 40. in der Moto2-WM.
Sechs Rennen, fünfmal auf dem Podest und immer im Ziel und in den WM-Punkten. Der beste Tom Lüthi aller Zeiten ist auf Titelkurs. In Mugello ist WM-Leader Franco Morbidelli zum ersten Mal in dieser Saison besiegt worden. Nach vier Siegen und einem Sturz reichte es dem Italiener in Mugello «nur» zu Platz vier. Tom Lüthi sagt: «Ich habe schon vor diesem Rennen gesagt, dass er nicht unschlagbar ist. Ich habe ihn ja auch letzte Saison besiegt.»
Mit Mugello hat eine Phase mit vier Rennen in fünf Wochen begonnen (Mugello, Barcelona, Assen, Sachsenring). In diesem «Überlebensmonat» werden die Weichen Richtung Titel zum ersten Mal gestellt. Wer am Abend des 2. Juli nach dem GP von Deutschland immer noch auf einem der ersten beiden Plätze der Gesamtwertung steht, hat beste Chancen auf den Titel.
Je besser sich ein Fahrer in diesem «Überlebensmonat» zwischen den Rennen erholen kann, je besser es ihm gelingt, entspannt und konzentriert zu bleiben – desto grösser die Titelchancen. Die immense Erfahrung kann für Tom Lüthi ein entscheidender Faktor werden.