Mit ziemlicher Sicherheit war der Erfinder ein Zürcher Snob. Als Snob gilt, wer durch sein Verhalten Reichtum und gesellschaftliche Überlegenheit gegenüber Personen in vermeintlich niedereren Rängen zur Schau stellt. Für die Schwingerwelt war Dr. jur. Emil Huber (1879 - 1938) wohl ein Snob. Ein «Gschtudierter» und erst noch aus dem Züribiet. Was er tat, war für die Zeitgenossen in Zwilchhosen ungeheuerlich.
Noch heute ist in alten Chroniken zwischen den Zeilen die nur mühsam gebändigte Empörung spürbar. Der legendäre Sportchronist Fritz Erb (Vater der TV-Legende Karl Erb) räumt beispielsweise in der Jubiläumsschrift des Nordostschweizerischen Teilverbandes ein: «Sicher hatten die viel diskutierten Ereignisse des Eidgenössischen in Luzern 1926 in Dr. Emil Huber, diesem Schwingerfreund mit einem besonders wachen und kritischen Sinn, das Wunschgebilde eines Kilberger Schwinget geläutert und abgeklärt.»
Wenn wir erahnen wollen, warum es um die Anfänge des heute exklusivsten Sportanlasses der Welt so viel Aufregung gab, warum ein Chronist nach der ersten, in Dauerregen und Morast versunkenen Austragung vom 11. September 1926 höhnte, der Himmel habe diesen Frevel «beweint» und das garstige Wetter sei die gerechte Strafe von höheren Mächten, dann müssen wir uns folgende Situation vorstellen.
Präsident Philippe Gaydoul ist ob der Finalniederlage 2014 seiner Kloten Flyers gegen die ZSC Lions und über die Schiedsrichterleistung so empört, dass er im privaten Rahmen künftig jedes Jahr eine Finalrevanche organisiert. Um wahres, ehrliches Hockey zu erleben. Tickets werden keine verkauft, geladen werden nur echte Hockeyfreunde. Das Staatsfernsehen überträgt live. Um die Durchführung zu sichern, wird eine Stiftung gegründet.
Nach diesem Muster ist der Kilchberger Schwinget entstanden. Am 14. August 1926 kommt Fritz Hagmann, einer der elegantesten «Bösen» aller Zeiten, beim Eidgenössischen in Luzern nach einem Gestellten im Schlussgang nur auf den dritten Rang. Die Legende geht so: Fürsprecher Dr. Emil Huber ist über das Scheitern seines persönlichen Favoriten und über die miserablen Kampfrichterleistungen so empört, dass er ein Jahr später bei sich zu Hause «Uf Stocken» in Kilchberg im weitläufigen Garten 1200 Zuschauer und die 50 Bösesten zur Revanche lädt.
Um ehrliches, wahres Schwingen zu erleben. Kein Titel. Kein Kranz. Nur ein Schönschwingerpreis und der Muni für den Sieger. Und tatsächlich werden die Dinge ins rechte Licht gerückt. Der in Luzern um die Königswürde gebrachte Fritz Hagmann gewinnt das Fest.
Die Welt des Dr. Huber ist wieder in Ordnung. Mit einer Einlage von 15'000 Franken (nach heutigem Geldwert über 100'000 Franken) gründet er 1933 eine Stiftung. Der Zweck: Dem Schwingklub Zürich ermöglichen, bis in alle Ewigkeit den Kilchberger Schwinget als Revanche fürs Eidgenössische durchzuführen und den Siegermuni zu spendieren.
Bis heute ist dieser Schwingklub formell für die Organisation zuständig, managt die Festwirtschaft und darf immer zwei Schwinger ans Fest schicken. Die übrigen 58 werden auf die Teilverbände aufgeteilt. Es sind also «nur» die 58 «Bösesten» – die zwei «Quoten-Zürcher» vom Schwingklub Zürich sind im Vergleich zu den wahren Titanen nur schmalbrüstige Hinterbänkler. Die schwingtechnische Aufsicht hat der Eidgenössische Schwingerverband.
So ist es bis heute geblieben. Abwechselnd mit Unspunnen – also alle 6 Jahre – wird auf dem heute gemeindeeigenen Gutsbetrieb «Uf Stocken» zu Kilchberg vor den Toren von Zürich ein Jahr nach dem Eidgenössischen die Revanche ausgetragen. Also nicht auf «heiligem» Schwingerboden im Emmental, im Oberland oder in der Innerschweiz. Sondern auf einem der teuersten Böden der Welt, nur ein paar Kilometer Luftlinie vom Zürcher Hauptbahnhof entfernt.
Die Gemeinde Kilchberg zahlte 1982 für die zum Gutsbetrieb ausgebaute ehemalige Nervenheilanstalt sage und schreibe 32'736 500 Franken, nachdem der Kauf an der Gemeindeversammlung per offenem Handmehr bewilligt worden war. Kilchberg ist also wahrlich kein typisches Schwingerdorf. Sondern eines der reichsten Gemeinwesen der Welt. 7800 Einwohner, 30 Prozent Ausländeranteil.
Der Kilchberger Schwinget ist auch aus sportlichen Gründen das exklusivste aller Feste. Zum Kampf um die Königskrone beim Eidgenössischen treten 280 Böse an. 90 sind es beim Unspunnen. Aber nur 60 bzw. 58 beim Kilchberg. Diese enorme Leistungsdichte hat direkte Auswirkungen aufs Schwingen: Die Ausgeglichenheit ist so gross, dass sich die Titanen oft gegenseitig blockieren. Die Intensität der Kämpfe ist höher als der Spektakelgehalt. Entsprechend schwierig ist es, dieses Fest zu gewinnen. Bis heute hat nur Karl Meli (1967 und 1973) den Titel verteidigt.
Die Tickets sind nicht käuflich zu erwerben. Sie werden den Schwingklubs im ganzen Land kostenlos zugeteilt. Die wiederum händigen die begehrten Eintrittskarten gratis ihren verdienten Mitgliedern aus. Nur die Treusten der Treuen, die Edelsten der Edlen kommen zu diesem Fest. Die Kapazität ist auf 12'000 beschränkt. Das Interesse ist indes so gross, dass problemlos 50'000 Tickets verkauft werden könnten und unser Staatsfernsehen überträgt am Sonntag ab 07.30 Uhr acht Stunden lang live.
Eine Verlegung des Festes auf ein grösseres Gelände ist jedoch gemäss Kilchbergs Gemeindeschreiber Peter Vögeli «ausgeschlossen». Von den 12'000 Tickets erhält die Gemeinde Kilchberg 1000 Stück (800 Sitz- und 200 Stehplätze). Die Einwohner von Kilchberg konnten mit einem Talon aus dem Mitteilungsblatt der Gemeinde im April ein Ticket bestellen und dann auf der Gemeindeschreiberei gratis abholen.
Allerdings nur gegen Nachweis der Ortsansässigkeit. Beim Schwingen hat eben alles seine Ordnung. Die Gralshüter des Hosenlupfs haben übrigens mit dem aufmüpfigen Gründer des Kilchberger Schwinget Frieden geschlossen: Sie haben 1933 Dr. Emil Huber zum Ehrenmitglied des Eidgenössischen Schwingerverbandes ernannt.