Die Szenerie wirkt auf den ersten Blick absurd. Hinter der Gymnastik-Bühne des Aargauer Kantonalturnfests in Muri stehen zehn jugendliche Frauen, die jüngste erst dreizehn Jahre alt. Daneben macht sich ihr Konkurrent bereit: der 38-jährige Remo Murer aus Muhen. Als er schliesslich auftritt, zeigt er ein feuriges Programm. Zum Schluss passiert ihm ein Lapsus: Der Ball, den er fangen will, landet daneben und springt von der Bühne. Das Publikum bejubelt Murer aber, als hätte er den Wettbewerb gerade gewonnen.
Das hat seinen Grund: Murer ist ein lebendes Stück Turngeschichte. Er ist der einzige Mann, der je Gymnastik als Wettkampfsport ausübte. In seiner Karriere gewann er sechs Schweizer-Meister-Titel und deklassierte die weibliche Konkurrenz. Dazu vertrat er den Damenturnverein Muhen und die Schweiz an internationalen Anlässen. Seine Karriere als Leistungssportler beendete er 2007.
Dennoch lebt er immer noch für die Gymnastik. Er ist technischer Leiter des DTV Muhen und trainiert dort die Juniorinnen, die Aktiven und die Ü35. Am Kantonalturnfest turnt Murer, der seit vier Jahren mit seinem Partner in eingetragener Partnerschaft lebt, aus Jux. Weil seit 1999 kein Gymnastik-Einzel mehr ausgetragen wurde, ist er Titelverteidiger.
Zur Gymnastik kam Murer als 11-Jähriger nur etwa 50 Meter nördlich von seinem Kantonalturnfest-Auftritt, im Stadion Brühl, der Heimstätte des FC Muri. Dort fand 1992 die Schlussfeier des Regionalturnfestes statt. Der junge Murer war begeistert von der Sportart: «Ich bewunderte einfach alle. Von der einzelnen Turnerin bis zur Choreografin», erzählt er. 25 Jahre später ist Murer bekannt wie ein bunter Hund in der Turnerszene und wird diesen Sonntag die Schlussvorführung des Kantonalturnfestes choreografieren.
Der Einstieg als Gymnast war aber alles andere als leicht. Schliesslich war er der einzige Mann unter Frauen. Seine Mutter Käthi erzählt: «Er musste sich viele Sprüche anhören und wurde für seinen Sport oft aufgezogen. Er hat mir natürlich leidgetan. Aber wir als Familie mussten das einfach wegstecken.» Murer selbst sagt: «Die negativen Reaktionen haben mich nur abgehärtet. Ich wusste immer: Die Freude an diesem Sport kann mir niemand verderben.»
Die Kritik an ihm und seinen Auftritten kam zu grossen Teilen nicht von Männern: «Frauen sind untereinander ‹Viecher›. Ich habe sexuelle Diskriminierung erlebt», sagt Murer. Doch oftmals sei die Kritik auch vorprogrammiert gewesen: «Ich habe schliesslich oft vom Podest auf meine Konkurrentinnen heruntergeschaut.» Mittlerweile ist Murer grösstenteils geschätzt. Als Leiter der Juniorengruppe des DTV Muhen beobachtet er auch gesellschaftliche Veränderungen: «Die junge Generation denkt anders. Die Jugendlichen sind viel offener als früher.» Dennoch wurde Murer auch an seinem Kantonalturnfest-Auftritt schräg angeschaut. Er nimmt es gelassen zur Kenntnis.
Dass Gymnastik eigentlich nichts für Männer war, zeigte ihm auch der Schweizerische Turnverband (STV). In seiner Wohnung steht ein Pokal mit dem Aufdruck «Schweizermeisterin». Mit 17 wurde er am Regionalturnfest Oberkulm vom ersten Platz verbannt, weil er in T-Shirt und Leggins angetreten war und nicht in einem Einteiler. «Die Regeln sprachen nur von ‹der Gymnastin›, deshalb dachte ich, sie gelten für mich nicht.» Innerhalb einer Woche änderte der STV das Reglement.
Murer glaubt zu wissen, warum sein Gymnastik-Einstieg schwierig war: «In vielen Turnvereinen herrscht die Devise vor: ‹Das war schon immer so, also muss es immer so bleiben›. Diese konservative Denkweise habe ich aufgebrochen. Konservatismus ist ja eigentlich etwas Schönes: Man will Erhaltenswertes erhalten. Doch für mich ist eben Tradition nicht die Asche anzubeten, sondern das Feuer weiterzutragen. Das OK hier in Muri lebt das schön vor und hat das Turnfest auch für Aussenstehende attraktiv gemacht.»
Bei der Schlussvorführung am Sonntag wird Murer als Choreograf erneut der einzige Mann sein. Für die 125 Turnerinnen hat er alle Gymnastik-Anzüge selbst genäht. Seit er 21 ist, schneidert er sich alle Kleider für seine Auftritte selbst. Auch die Kleider seiner Schützlinge näht er alle.
Die von ihm choreografierte Schlussvorführung ist für Murer nur ein mittelfristiger Höhepunkt. Das eigentliche Highlight folgt 2019. Dann wird er die Eröffnungs- und Schlussfeier des Eidgenössichen Turnfestes in Aarau choreografieren. «Es ist sehr viel Arbeit, aber ich freue mich riesig darauf, weil es fast ein Heimspiel ist», sagt er. Nach diesem Höhepunkt will Murer zwar als Leiter und Choreograf in der Gymnastik bleiben, doch er hat auch höhere Ziele: «Einen Eurovision Song Contest choreografieren, das wäre noch cool.» (aargauerzeitung.ch)