Als Roger Federer vor einem Jahr im Wimbledon-Halbfinal bäuchlings auf dem Rasen liegt, das Gesicht in den Händen vergraben und im Kopf den quälenden Gedanken, sein linkes Knie könnte ihn wieder im Stich lassen, erklären zahlreiche Beobachter wieder einmal, seine Zeit sei abgelaufen. «Das Ende einer Ära», sagt Boris Becker.
Nicht nur Federer selbst stellt sich diese Fragen, sondern alle, die an diesem Freitag Zeuge der Niederlage werden. Nie zuvor hatte man den leichtfüssigen Prototyp eines Rasenspielers derart verletzlich und aus der Balance gesehen. Bewundert wurde Federer schon immer, doch nun vermischte sich die Bewunderung immer mehr mit der Faszination seiner neuen Verletzlichkeit. Doch in der Retrospektive betrachtet ist Wimbledon 2016 mehr Ursprung und Markstein einer Wiedergeburt.
Wimbledon prägt Federers Karriere, ja sein Leben. Ebenso sehr aber prägt der Baselbieter Wimbledon. Mit einem 7:6 (7:4), 7:6 (7:4), 6:4 gegen den Tschechen Tomas Berdych (31, ATP 15) zieht er an der Church Road zum elften Mal in den Final ein. Mit einem achten Titel am Sonntag gegen Marin Cilic (28, ATP 6) kann er sich zum alleinigen Rekordsieger emporschwingen. «Es bedeutet mir sehr viel und macht mich stolz, wenn ich mich in der Geschichte dieses Turniers verewigen kann», sagt der Baselbieter, als er darauf angesprochen wird, dass er gerade sein 100. Einzel im Südwesten Londons bestritten hatte.
Gegen Berdych geht Federer nicht über Wasser, aber er gewinnt fast alle wichtigen Punkte. Er wehrt fünf von sechs Breakchancen ab, schlägt 13 Asse und entscheidet zwei Tiebreaks für sich. «Ein Auto hat fünf oder sechs Gänge. Roger aber hat zehn. Und wenn es nötig wäre, hätte er sicher noch einen elften», sagt Becker, der dreifache Wimbledon-Sieger.
Nach seiner Verletzungspause hat Federer in einem Halbjahr nur sechs Turniere bestritten, davon vier gewonnen. In Wimbledon, wo für ihn mit dem Junioren-Titel 1998 alles begann, steht er zum dritten Mal nach 2006 und 2008 ohne Satzverlust im Final. «Ich würde sagen, er hat den Lauf seines Lebens. Aber im Prinzip ist sein ganzes Leben so», sagt Becker, der Federers Zeit vor 371 Tagen für abgelaufen erklärt hatte.
«Das ist Federers Zuhause. Er drückt immer aufs Gaspedal, lässt seinen Gegner nicht atmen.» Einen knappen Monat vor seinem 36. Geburtstag hat sich der vierfache Vater und 18-fache Grand-Slam-Sieger noch einmal neu erfunden.
Einmal sagte er über Wimbledon, selbst wenn er seine Karriere nur hier gespielt hätte, wäre sie bereits grossartig. Es sei die Geschichte, das Gefühl, das einen erfasse, wenn man die Anlage betrete. Der Hauch der Vergangenheit, die Präsenz der ehemaligen Grössen wie Rod Laver, Björn Borg oder seines ehemaligen Trainers Stefan Edberg, der am Freitag als Besucher neben seiner Mutter Lynette in seiner Box sitzt.
Nun dreht sich im Epizentrum des Tennis-Sports, beim ältesten Tennis-Turnier der Welt, wieder einmal alles um ihn. Seit einem Jahrzehnt trotzt er den Abgesängen, die auf ihn gemacht werden, wenn er für einmal nur ein normaler Spieler ist. Nach seinen Erfolgen in diesem Jahr wird darüber spekuliert, wann er letztmals so gut gespielt hat. Vor drei Jahren? Vor sieben? Vor zehn Jahren? Wie überall, wo nicht Millimeter oder Hundertstelsekunden unbestechliche Zeugen der Realität sind, neigt der Mensch zur Verklärung.
Vergangene Woche wird er gefragt, ob er besser spiele denn je. Seine Antwort: «Ich denke nicht, aber ich hoffe, mich jedes Jahr verbessern zu können. Ich bin einfach glücklich, dass ich immer noch so gut spiele. Ob ich überrascht bin? Vielleicht ein wenig.» Allzu oft geht vergessen, dass nicht nur sein üppiger Palmarès, bestehend aus 92 Einzel-Titeln und einer ganzen Kaskade von Rekorden, in die Geschichte des Sports eingehen wird. Am Sonntag bestreitet er sein 1358. Einzel, seinen 29. Grand-Slam-Final beim 70. Grand-Slam-Turnier. Alles Rekorde.
Im Final trifft er mit Marin Cilic (28, ATP 6) auf einen Spieler, den er von Anfang an auf der Rechnung hatte. «Er hat die Waffen, Roger wehzutun», sagt Becker. Wie vor drei Jahren, als er in den Halbfinals der US Open Federer in drei Sätzen demontierte, den ersten und bis jetzt letzten Sieg in sieben Duellen mit dem Schweizer feiert und am Tag darauf auch sein einziges Grand-Slam-Turnier gewinnt.
Im Vorjahr hatte er gegen Federer in den Viertelfinals eine 2:0-Satzführung verspielt und dabei drei Matchbälle vergeben. Der 1,98 Meter grosse Kroate hat eine wechselvolle Karriere hinter sich. Mit 21 Jahren stösst er erstmals in die Top Ten vor. 2013 wird ihm in einer Dopingkontrolle das Psychostimulans Nikethamid nachgewiesen.
Eine viermonatige Sperre ist die Folge. Unter dem vormaligen Wimbledon-Sieger Goran Ivanisevic als Trainer wird Cilic ein neuer Spieler und dank eines justierten Bewegungsablaufs zu einem der besten Aufschläger der Welt. In Wimbledon hat er bisher bereits 130 Asse geschlagen.
Vergangene Woche erzählt Federer dem Schweizer Fernsehen die Geschichte, wonach er die Organisatoren des Turniers gebeten hat, gleich grosse Duplikate des Henkelpokals herzustellen. Schliesslich spiele er nicht um die Version, die nur einen Viertel so gross sei. Für die Nachbildungen, welche drei Viertel des Originals messen, soll er je 10 000 Franken bezahlt haben. Nun steht mit Cilic nur noch ein Spieler zwischen der Wiedervereinigung Federers mit dem Pokal, der ihm die Welt bedeutet.
Einmal wurde er gefragt, wann ihm Wimbledon besser gefalle: Vor dem Turnier, wenn nur das Ploppen der Bälle zu hören und der Rasen noch grün und satt ist, oder danach. Federer zögerte keine Sekunde: «Dann, wenn ich den Pokal in die Höhe strecke. Denn für diesen Moment sind wir alle hier.»