Stille. Die Bildschirme sind schwarz. Das Adrenalin pumpt, die Gedanken kreisen. «Man horcht in sich hinein», sagt Roger Federer (35) über die letzten Momente vor einem Wimbledon-Final. Die Tasche ist bepackt mit Handtüchern, Flaschen und neun frisch bespannten Rackets. Geredet wird nicht mehr, der Blickkontakt zum Gegner vermieden. «Er hat seine Ecke, du deine», sagt Lleyton Hewitt, der Sieger von 2002.
Federer sitzt am Sonntag zum elften Mal vor einem Final in den Katakomben, die einem Tennisspieler die Welt bedeuten. Sein kroatischer Gegner Marin Cilic sitzt nur zehn Meter weiter weg. «Als Athlet möchtest du immer die gleichen Routinen befolgen», sagt Mark Philippoussis, der 2003 Federers Gegner im Wimbledon-Final war. «Doch sobald du die Treppe hinunterkommst und den Pokal siehst, fällt alles in sich zusammen, weil du weisst, dass es kein normales Spiel ist.»
Dieses Gefühl sei komisch, denn in den ersten Tagen des Turniers sei die Kabine ein verrückter Ort, erzählt der Australier. «Entspannt und freundschaftlich», beschreibt Federer die Stimmung in den ersten Tagen. «Manchmal wärmt man sich sogar mit dem Gegner auf, macht ein paar Spässe. Die einen spielen Minigolf, andere schauen Fernsehen, daneben wird gedehnt und geredet», erzählt Roger Federer einst in einem Tennis-Extra des «Blick».
Federer selbst verbringt aber kaum noch Zeit in der Kabine. «Ich habe mit Medien, Sponsoren und Familie schlicht zu viel zu tun», sagt er. «Aber ich bin froh, dass wir bei den Männern einen lockeren Umgang pflegen.» Von seiner Frau Mirka habe er gehört, dass dies bei den Frauen in der Kabine nicht so sei und böse Blicke ausgetauscht würden.
Wenn mit Roger Federer in Wimbledon der siebenfache Sieger die Kabine betritt, ist es aber nicht wie bei jedem anderen. «Wenn Roger kommt, schauen alle nur noch ihn an, auch ich. Ich schaue nur, sage aber nichts. Roger hat eine ganz besondere Aura, die ihn umgibt», gewährt Nick Kyrgios einen Einblick in eine Welt, die sonst im Verborgenen liegt.
Lange und enge Gänge führen durch das Klubhaus des All England Club Richtung Centre-Court. Am Tag des Finals bewegen sich hier nur noch Würdenträger oder uniformierte Aufpasser. An den Wänden hängen Bilder früherer Sieger. Überall ist die Wucht der Tradition zu spüren.
Eine Treppe führt nach unten in den Eingangsbereich. Hier fangen Kameras die Minuten vor dem letzten Spiel ein, das Raunen der Zuschauer ist hörbar, die Vibrationen sind fühlbar. Nur eine Schiebetür aus Milchglas trennt Federer und Cilic jetzt noch vor dem Gang, der sie auf den berühmtesten Tennis-Platz der Welt führt. Über der Schiebetür prangt die legendäre Inschrift von Rudyard Kipling, die jedem Spieler mitgibt, was einen wirklichen Sieger ausmacht: «If you can meet with triumph and disaster and treat those two impostors just the same.» Wenn du mit Triumph und Desaster umgehen und diese beiden Betrüger gleich behandeln kannst.
"If you can meet with Triumph and Disaster / And treat those two impostors just the same..."#NationalPoetryDay pic.twitter.com/3wjDaoLdsS
— Wimbledon (@Wimbledon) 8. Oktober 2015
Zwei Meter daneben, links in einer Glasvitrine, steht der Pokal, der die Silhouette einer Ananas hat. 44 Zentimeter hoch, an den Enden der beiden Henkel mit Köpfen verziert, die als Siegersymbol geflügelte Helme tragen. «The All England Lawn Tennis Club Single Handed Champion of the World», ist eingraviert, der Name des Siegers wird jeweils nach Spielende verewigt.
Der Gefühlscocktail aus Nervosität, Anspannung und Vorfreude sorgt bei Federer noch immer für Gänsehaut. «Manchmal stehst du im Gang und spürst die Nerven. Die Tasche fühlt sich immer schwerer an», sagt er nach der zweiten Runde. Eine Eigenheit des Finals besteht darin, dass die Taschen auf den Platz getragen werden. Nun führt der Weg aufwärts, vorbei an der grünen Ehrentafel, wo Federers Name schon sieben Mal verewigt ist. Und dann geht es los.
Unmittelbar nach dem Spiel sehen sich die Finalisten noch einmal kurz in der Kabine. Der Sieger wartet, bis der Verlierer zum Duschen in den oberen Stock geht. Dann holt der Sieger Familie und Freunde hinein. Erst danach nimmt er die Pflichttermine wahr: Presse, Fernsehen, Radio. Viel später am Abend wird der Sieger in einen edlen Frack eingekleidet. Gegen Mitternacht trifft er zum Champions Dinner ein.