Wir erleben in diesen Tagen den besten Tom Lüthi aller Zeiten. Er ist sogar noch besser als in den letzten Rennen der vergangenen Saison, seiner bisher besten Phase seiner Karriere. Zum ersten Mal ist er nun in den drei ersten Rennen aufs Podest gefahren (2./3./2).
Selbst als er 2005 seinen WM-Titel (125 ccm) holte, hatte er bei weitem nicht einen so guten Saisonstart. Dieser begann mit einem Ausfall durch einen technischen Defekt, einem 3. und einem 4. Platz.
Der gute WM-Start ist eine erfreuliche Überraschung. In den Vorsaisontests stürzte Tom Lüthi (30) sechsmal und zerstörte in den Trainings zum ersten GP in Katar nochmals ein Bike. Nun zeigt sich, dass diese Sturzserie kein Grund zur Beunruhigung ist. Sein Manager Daniel M. Epp sagt: «Bei unserer Saisonanalyse ist uns im Winter klargeworden, dass Tom nur dann eine Chance auf den Titel hat, wenn er mehr riskiert und seine Grenzen hinausschiebt.»
Diese Rechnung ist aufgegangen. Aber klar ist auch: Wenn Tom Lüthi Weltmeister werden will, darf er sich in den 18 Rennen höchstens einen «Nuller» (Ausfall) leisten.
Es ist üblich, dass sich die Piloten bei ihren Technikern bedanken. Tom Lüthi sagt: «Ich möchte meinem Cheftechniker Gilles Bigot danken, der in Texas mit den Jungs erneut ein Motorrad hergerichtet hat, mit dem ich das Rennen entspannt angehen konnte.»
Dieser Dank kommt aus tiefster Seele: Er arbeitet nun im zweiten Jahr mit dem ehemaligen Cheftechniker von Dominique Aegerter. Mit dem introvertierten, freundlichen Franzosen hat Tom Lüthi erstmals seit seiner Weltmeistersaison 2005 (Sepp Schlögl) einen «Töff-Seelenverwandten» als Cheftechniker gefunden. Der «erste Schrauber» ist nebst der Freundin oder Frau die wichtigste Bezugsperson eines Rennfahrers. Techniker, aber eben auch Freund, Psychologe, Tröster und Motivator.
Bereits nach 3 von 18 Rennen zeichnet sich ab, dass die Titelentscheidung wahrscheinlich zwischen Franco Morbidelli und Tom Lüthi ausgefahren wird. Der Schweizer führt – mit der gleichen Punktzahl wie MotoGP-WM-Leader Valentino Rossi – die Moto2-WM nur deshalb nicht an, weil es dem Italiener gelungen ist, als erster Fahrer seit 16 Jahren die ersten drei Rennen der «mittleren» WM-Kategorie zu gewinnen.
Tom Lüthis Rückstand von 19 Punkten ist auf den ersten Blick gross. Aber auf den zweiten Blick sehen wir, dass noch 15 Rennen zu fahren sind und die Differenz schrumpft zur Bedeutungslosigkeit. Mit zwei Ausnahmen (Aragon, Österreich) hat er auf allen restlichen 15 GP-Strecken schon mindestens einmal einen Podestplatz geholt hat. Wie stehen die Titelchancen im Duell mit Franco Morbidelli?
Es gibt vier Faktoren:
Franco Morbidelli ist erst 22, acht Jahre jünger als Tom Lüthi. Einerseits gehört er bereits zur nächsten, wilderen und sorgloseren Fahrergeneration. Andererseits steht Tom Lüthi im Zenit seiner Karriere und hat die perfekte Mischung aus Mut, Risiko, Intelligenz, technischem Verständnis und Fahrkunst entwickelt. Er hat bereits 236 GP bestritten, davon 119 in der Moto2-Klasse. Sein Herausforderer kommt auf das Wissen aus 53 GP.
Es spielt eine wichtige Rolle, dass Tom Lüthi aus eigener Erfahrung weiss, wie man Weltmeister wird. Er kennt den Trubel durch das Ansteigen des Medieninteresses und die immense Belastung. Für Franco Morbidelli beginnt der Ernst des Lebens erst in den nächsten Wochen. Die drei ersten Rennen sind in Übersee ausgefahren worden. Fern der Heimat. Da fällt es ein bisschen leichter die Konzentration zu bewahren. Wenigstens hat er einen sehr guten Ratgeber. Er ist mit Valentino Rossi befreundet. Beim Faktor Erfahrung hat Tom Lüthi Vorteile.
Franco Morbidelli ist drei perfekte, fehlerfreie Rennen gefahren. In diesem Bereich ist er mindestens so gut wie Tom Lüthi.
Franco Morbidelli fährt im besten Moto2-Team (Marc VDS). Aber er hat mit Alex Marquez einen starken Teamkollegen. Das kann sich als Vorteil oder als Verhängnis erweisen. 2005 wurde Tom Lüthi Weltmeister, weil Tabor Talmacsi im KTM-Rennstall seinem Teamkollegen Mika Kallio trotz Stallorder entscheidende WM-Punkte abknöpfte. Tom Lüthi steht im technischen Bereich auf Augenhöhe mit dem WM-Leader.
Tom Lüthi sagt: «Morbidelli war wieder grossartig. Aber ich habe nicht vor, ihn alle Rennen gewinnen zu lassen. Ich bin entschlossener denn je und ich werde alles Nötige dafür tun, um ihn zu schlagen.» Wann wird es soweit sein? «Es gibt einige Strecken, auf denen ich schon mehrmals gewonnen habe. Beispielsweise in Le Mans. Aber ich will in jedem Rennen um den Sieg fahren.» Das Selbstvertrauen ist also intakt.
Wir sehen: Tom Lüthi hat so gute Titelchancen wie seit 2005 nicht mehr.