Die Entscheidung war knapp, die Freude gross – aber nicht überschwänglich, eher kontrolliert. Schliesslich ist Fabian Cancellara nicht erst seit gestern Radprofi und er fuhr nicht zum ersten Mal ins Gelbe Leadertrikot. Rang 3 in der Etappe nach Zeeland bedeutete, dass der Berner morgen zum bereits 29. Mal in seiner Karriere im Maillot Jaune an den Start gehen kann.
Cancellara wurde nur von André Greipel und Peter Sagan bezwungen, er konnte jedoch mit Mark Cavendish ein drittes Sprinter-Ass knapp hinter sich lassen. So erhielt er eine Zeitgutschrift und konnte den Gesamtführenden Rohan Dennis ablösen. «Damit habe ich heute Morgen nicht gerechnet», gab «Spartacus» zu.
«Ich musste im Ziel zwei, drei Mal den Pressesprecher und den Pfleger fragen, ob es reichte», verriet Cancellara im SRF. «Ich wusste nicht, ob ich Dritter oder Vierter war. Als ich nach etwas Warten mit eigenen Augen sah, dass es gereicht hat, sagte ich mir, dass das Glück endlich wieder auf meiner Seite war, das Glück, das mir in letzter Zeit etwas gefehlt hatte.»
Cancellara meinte, er hätte «vielleicht einen noch besseren Sprint machen können», doch es habe ja gereicht. So jubelt die Schweiz und Deutschland ärgert sich trotz Greipels Etappensieg. Denn hätte Cavendish im Endspurt voll durchgezogen, wäre er wohl vor Cancellara Dritter geworden und hätte so seinem Teamkollegen Tony Martin ins Leadertrikot verholfen.
Die Kritik, er habe seine Beine zu früh hängen lassen, wollte Cavendish jedoch nicht gelten lassen. «Der Radsport ist kein Video-Game», ärgerte sich der Sprinter von der Isle of Man über die Vorwürfe an seine Adresse. Unterstrichen wird seine Aussage von einer Zahl: 69,16 km/h. So schnell war Fabian Cancellara auf der Ziellinie – und er hatte damit den höchsten Speed der vier erstplatzierten Fahrer.
Der Berner wies in den Siegerinterviews wiederholt darauf hin, dass seine zehnte Tour-Teilnahme womöglich seine letzte sei. Entsprechend viel bedeute es ihm, noch einmal das Leadertrikot erobert zu haben. Noch am Samstag nach Rang 3 im Zeitfahren war er enttäuscht darüber, es verpasst zu haben.
Die nötige Motivation fand er dank einer WhatsApp-Nachricht wieder, die ihm sein Trainer Josu Larrazabal geschickt hatte. Cancellara machte sie noch vor dem Start zur sonntäglichen Etappe öffentlich:
It is to long to translate but this is what given me new motivation after todays timetrial for the next days #TDF2015 pic.twitter.com/4vFTA6b4iZ
— Fabian cancellara (@f_cancellara) 4. Juli 2015
Motivation gab es auch unterwegs. Als sich das Feld rund 60 Kilometer vor dem Zielstrich teilte, funkte Cancellaras Sportlicher Leiter seinem Star ins Ohr, dass er nun das erreichen könne, was er gestern noch verpasst hatte.
Elf Jahre nachdem er gleich bei seinem Tour-Debüt erstmals ins Maillot Jaune schlüpfen durfte, hat Fabian Cancellara dies also erneut geschafft. Am längsten trug er es 2007 und 2012, als er jeweils sieben Tage lang Gesamtführender der Frankreich-Rundfahrt war.
Wie lange kann er Platz 1 in diesem Jahr verteidigen? Die Etappe vom Montag endet an der Mauer von Huy, an welcher jeweils der Frühlingsklassiker Flèche Wallone endet. Cancellara hat dieses Rennen noch nie bestritten, kennt die zwar kurze, aber bocksteile Steigung jedoch. «Man muss möglichst an der Spitze in die Schlusssteigung fahren. Aber für mich wird es schwierig. Es geht darum, dass ich möglichst wenig Zeit verliere», hofft Cancellara.
Geht sein Plan auf, könnte es – mit viel Wettkampfglück – den nächsten Schweizer Jubeltag geben. Denn der Thurgauer Michael Albasini wird besonders motiviert ins Rennen gehen. An der Flèche Wallone gehört er Jahr für Jahr zu den Besten, 2012 wurde er Zweiter. Albasini verfehlte einen Etappensieg an der Tour de France schon mehrfach knapp – er träumt davon, in diesem Jahr endlich einmal ein Teilstück gewinnen zu können.