Zehn WM-Strassenrennen hat Cancellara bisher bestritten, 2006 in Salzburg fuhr er erstmals ernsthaft um den Sieg mit. Zum Titel oder auch nur zu einer Medaille reichte es dem vierfachen Zeitfahr-Weltmeister aber nie. Im Herbst seiner Karriere - in zwei Jahren dürfte er seine Karriere beenden - möchte er das Verpasste endlich nachholen.
Seit den Frühjahrs-Klassikern, an denen er zum dritten Mal die Flandern-Rundfahrt gewann, konzentrierte sich Cancellara voll und ganz auf sein primäres Saisonziel. Der Schweizer Radstar bereitete sich vielleicht so gewissenhaft wie noch nie auf eine WM vor. Er beendete die Tour de France und die Vuelta frühzeitig, liess zum ersten Mal auch das WM-Zeitfahren aus, in dem er wohl erneut eine Medaille gewonnen hätte.
«Ich habe alles gemacht, was ich tun konnte», sagte Cancellara an der Medienkonferenz am Donnerstag. Und man glaubt es ihm. Cancellara wirkt so austrainiert und dünn wie nie. Seine Antworten auf die Fragen der Medien fielen spärlich aus, er schien irgendwie abwesend und bereits drei Tage vor dem Rennen ganz fokussiert auf den grossen Tag.
Cancellara stehen mit Michael Albasini und Danilo Wyss nur zwei Teamkollegen zur Seite, weil die in den World-Tour-Teams - die Schweizer Mannschaft IAM zählt nicht dazu - engagierten Schweizer im Verlauf der Saison zu wenig Punkte gesammelt haben. Dies ist mit Sicherheit kein Vorteil. Taktische Geplänkel sind nicht möglich und bei einem allfälligen Sturz oder Defekt ist eine Rückkehr an die Spitze schwierig.
Aber: Die Schweizer müssen keine Verantwortung übernehmen, können sich bis ins Finale zurückhalten. «Wir müssen ruhig bleiben und taktisch klug fahren, damit wir vorne dabei bleiben», sagt Nationaltrainer Luca Guercilena. Und Cancellara ergänzte selbstbewusst: «Wir haben ein kleines, dafür starkes Team.»
Um Weltmeister zu werden, kann sich Cancellara ohnehin nicht auf sein Team, sondern nur auf sich selbst und seine Beine verlassen. Und an Titelkämpfen fuhr Cancellara ohnehin die besten Resultate heraus, wenn er praktisch auf sich allein gestellt war: 2008 an den Olympischen Spielen in Peking, als er als Dritter über die Ziellinie fuhr und später von Dopingsünder Davide Rebellin (It) die Silbermedaille erbte, und 2011 in Kopenhagen, als er (mit nur drei Teamkollegen) sein bestes WM-Resultat (4.) herausfuhr.
Zum Vergleich: Als die Schweizer das Rennen dominierten (Olympia 2012/Sturz Cancellara) oder das Maximum an Fahrern stellten (WM 2013 in Florenz/10. Rang), ging die «Mission Gold» jeweils schief.
Gesprochen wurde im Vorfeld der WM praktisch nur von Cancellara. Doch mit Albasini besitzt das Schweizer Team einen Edeljoker, der ebenfalls fähig ist, ein solches Rennen mit einem ausgezeichneten Ergebnis zu beenden. Der 33-jährige Thurgauer befindet sich in guter Form und gewann vor gut einer Woche in Italien das Rennen «Tre Valli Varesine».
Zudem hat Albasini ausgezeichnete Erinnerungen an Ponferrada. Vor drei Jahren gewann der Ostschweizer, der in diesem Jahr drei Etappen der Tour de Romandie für sich entschied, in der Provinzstadt im Nordwesten Spaniens ein Teilstück der Spanien-Rundfahrt im Sprint. Es ist dies Albasinis bisher einziger Etappensieg an einer der drei grossen Rundfahrten.
Cancellara gehört zu einem grossen Kreis von Favoriten. Der Kurs über 14 Runden à gut 18 km (total 254,8 km und 4300 Höhenmeter) ist unberechenbar. In jeder Runde müssen zwei verhältnismässig leichte Steigungen bewältigt werden. Dies erhöht die Anzahl der Anwärter, die sich Hoffnungen auf den Titel machen können.
Zu den Topfavoriten gehören selbstredend die gastgebenden Spanier um Alejandro Valverde, der bereits fünfmal auf dem WM-Podest stand, aber wie Cancellara noch nie das Regenbogentrikot trug. Die Spanier warten mittlerweile seit zehn Jahren auf einen Rad-Weltmeister. Im Vorfeld rumorte es im Lager der Gelb-Roten aber wie fast jedes Jahr, nachdem Alberto Contador abgesagt hatte und Samuel Sanchez nicht aufgeboten worden war.
Zu den Goldanwärtern gehören auch der Australier Simon Gerrans, der in diesem Jahr Lüttich-Bastoge-Lüttich und vor zwei Wochen die beiden World-Tour-Rennen in Kanada (Québec und Montreal) für sich entschieden hat, sowie die belgischen Klassik-Spezialisten um Greg van Avermaet, Sep Vanmarcke und Philippe Gilbert. Auch Titelverteidiger und Tour-de-Suisse-Sieger Rui Costa (Por) darf wieder ein Topergebnis zugetraut werden. (si/syl)