Tyson gegen Lewis im Juni 2002, das ist nicht nur ein Boxkampf der Superlative. Es ist eines jener sportlichen Duelle, zu denen der Sieger Jahre später noch stundenlang von Reportern interviewt wird. Monothematisch, versteht sich. Und Lennox Lewis wird zu einem von ihnen sagen: «Es war der erste Kampf meiner Karriere, nach dem meine Hände schmerzten. Es war wegen der Grösse seines Nackens. Der war wie ein Schock-Absorbierer. Mike Tyson kassiert deinen Schlag, schüttelt ihn ab und kommt zu dir zurück».
Über 100 Millionen Dollar spült der Event in die Kassen, nie zuvor in der Geschichte des Pay-TV warf eine Übertragung mehr ab. Und selten ist die Sensationslust grösser, die Erwartungshaltung klarer, die Öffentlichkeit des Weltsports getriebener in der Frage: Will he do it again? Wird er wieder zubeissen?
Lewis und Tyson versenken den Kampf nämlich einträchtig schon im Januar desselben Jahres. Pressekonferenz in New York: Herausforderer Tyson wartet auf der Bühne des Hudson Theatre. Als Lewis erscheint, stürmt er nullkommanichts auf ihn los und versucht ihn zu attackieren. Bodyguards stellen sich dazwischen.
Was Tyson erst recht in Rage bringt. Ein linker Haken gegen einen Bodyguard, und eine beispiellose Massenschlägerei bricht sich Bahn. Boxer, Bodyguards, Entourage, alle gegen alle. Tyson stürzt sich abermals auf Lewis und verbeisst sich in dessen Oberschenkel. Das «Ring Magazine» wird später titulieren: «Event of the year 2002». Der Beisser ist zurück.
Die doch sehr handfeste Verteidigung seines Rufes lässt Tyson sich einiges kosten. Für den Biss muss der Aggressor Lewis mit über 400'000 Franken entschädigen. Was für ihn verkraftbar ist, hat er doch wie sein Gegner rund 30 Millionen Dollar Gage eingesackt.
Tyson fährt im Vorfeld des Kampfes nicht nur bei besagter Medienorientierung komplett aus seiner Haut. Er deckt Lewis mehrmals mit Flüchen ein und droht gar, er werde dessen «Kinder fressen und ihm das Herz herausreissen». Der Verbalradikalismus eines Boxers, der weiss, seinem Gegner im Ring nicht mehr die Stirn bieten zu können; eine Art präventiver Abgesang auf sich selbst.
Drei Weltmeistertitel im Schwergewicht – WBC, IBO und IBF – hat Lennox Lewis inne, sie hat Mike Tyson im Visier. Aber das Gigantentreffen wird Jahr um Jahr verschleppt und kommt für den Herausforderer zu spät. Tyson hat den Zenit schon überschritten, und trotzdem zehrt er noch von dem, was vom Nimbus des Unverletzbaren, des Unbesiegbaren übrig geblieben ist.
Zwei Minuten und fünfundzwanzig Sekunden hält Mike Tyson durch in der achten Runde, er hat zuvor ein, zwei Runden gross aufgeboxt. Das wenigstens. Dann aber ist da dieser Lennox Lewis und sein Punch, Tyson geht zu Boden und mit ihm der letzte Rest seiner vermeintlichen Unverletzlichkeit. All der überbordende Voyeurismus, all die Skandallust: geplatzt, verhöhnt und persifliert, binnen Sekunden. 15'000 Zuschauer halten in der Pyramid Arena in Memphis den Atem an. Und mit ihnen eine ganze Generation von Schwergewichtsboxern.
Der englische Telegraph posaunt es am nächsten Tag auf seiner Titelseite nur so heraus: «Lewis ist der grösste Schwergewichtsboxer seiner Ära». Eine volle Breitseite gegen den US-Bad-Guy und Herausforderer Mike Tyson.
Der säuselt: «Lewis ist ein grossartiger Kämpfer. Ich liebe und respektiere ihn viel zu sehr, als dass ich ihm etwas hätte antun können. Die Sprüche vor dem Kampf, das war alles nur für die Promotion».
So banal der Kampf damals vonstatten ging, so wenig hat ihm das in der Retrospektive geschadet. Lennox Lewis sagt Jahre später einmal: «Ich wollte einfach mein Erbe vervollständigen. Ich wollte beweisen, dass ich der beste Boxer der Welt war. Eigentlich hatte ich ein Jahr vor dem Kampf zurücktreten wollen, aber das ging nicht: Ich hatte nie gegen Tyson geboxt».
Für Lewis, für Tyson, für die TV-Macher, für die Fans, für jene logischerweise auch, die Kapitalinteressen hegten: Für sie alle war der Kampf zu einer Art Obsession geworden. Lewis ergänzt: «Wir mussten das Duell einfach ausfechten. Alle hatten mich mit dem Thema konfrontiert, alle. Aber so gut Tyson auch war, er war eindimensional. Ich aber war fünfdimensional».
Alle Welt fiebert dem Rückkampf entgegen, der aber nie zustande kommt – obschon vertraglich festgesetzt. Der Grund: Mike Tyson erklärt seinen Bankrott, der Kontrakt ist nach US-amerikanischem Recht damit hinfällig.
Und Lewis? Wie weiter, wurde Lewis nach dem Kampf von der Medienmeute gefragt. Jetzt, da er diesen Felsen, der ihm auf dem Zieleinlauf zum ersehnten Karrierenende noch im Weg gestanden hatte, aus dem Weg geräumt hatte. Lewis sagte: «Ich werde es euch wissen lassen».
Lennox Lewis tritt ein Jahr und einen Kampf später zurück. Er hatte sich schon eingereiht in das erlauchte Clübchen um Vitali Klitschko, Muhammad Ali und Evander Holyfield. Das Clübchen jener, die in ihrer Karriere mindestens dreimal den Weltmeistertitel im Schwergewicht holten.
Mike Tyson? Tyson war ein zweifelsohne grossartiger Boxer. In diesen Kreis hat er es indes nie geschafft. (tat)