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Syrien

«Überall wo wir hinkamen, herrschte Krieg. Es war die Hölle» – Jetzt sitzen die syrischen Flüchtlinge am Mailänder Bahnhof und wissen nicht weiter

«Emergenza Siria» – Notfall Syrien: Notdürftig wurde auf dem Bahnhof in Mailand eine Empfangsstation für die Flüchtlinge eingerichtet. 
«Emergenza Siria» – Notfall Syrien: Notdürftig wurde auf dem Bahnhof in Mailand eine Empfangsstation für die Flüchtlinge eingerichtet. Bild:
Flüchtlingsstrom aus Syrien

«Überall wo wir hinkamen, herrschte Krieg. Es war die Hölle» – Jetzt sitzen die syrischen Flüchtlinge am Mailänder Bahnhof und wissen nicht weiter

Auf dem Bahnhof in Mailand spielt sich derzeit ein Flüchtlingsdrama ungeahnten Ausmasses ab. Hilfswerke sprechen von einer Mega-Katastrophe. Ein Bericht von einem Ort, wo die Hoffnung zuletzt stirbt.
16.07.2014, 12:5018.07.2014, 10:21
Gelöschter Benutzer
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Die Menschen, die nicht auf die Schlachtbank geführt wurden in dem Krieg, der schon so viele Leben gekostet hat, landen entweder in Flüchtlingscamps oder hier – in Milano Stazione Centrale. Vier Bahnstunden von Zürich. 

Seit Oktober 2013 sind 14'500 syrische Flüchtlinge am Mailänder Bahnhof angekommen. Auf diesem Zettel sind die wichtigsten Wörter auf Italienisch und Arabisch notiert.
Seit Oktober 2013 sind 14'500 syrische Flüchtlinge am Mailänder Bahnhof angekommen. Auf diesem Zettel sind die wichtigsten Wörter auf Italienisch und Arabisch notiert.Bild: mtk/watson

Die syrischen Flüchtlinge, die nach Wochen oder gar Jahren entbehrungsreicher Reise auf den Abgängen in der Haupthalle des monumentalen Mailänder Bahnhofs ins Leere starren, sind gezeichnet von den Strapazen, vom Krieg, vom Verlust der Heimat. Zuletzt stirbt bekanntlich die Hoffnung, doch in den matten Augen der Flüchtlinge ist auch diese nur noch schwer zu erkennen. 

Italienisch für syrische Flüchtlinge.
Italienisch für syrische Flüchtlinge.Bild: mtk/watson

Stumm beobachten die Ankömmlinge, wie sich die schicken Mailänderinnen an den edlen Ständen verköstigen, in ihre Smartphones kichern, sich verabreden für ein ausgiebiges Essen – heute Abend irgendwo in Mailand, nett muss es sein. Es ist eine surreale Szene, die sich hier zuträgt. Ein Theater so absurd – es muss Europa sein. Das Chaos ist gewaltig. Eine Spielecke für die Kleinsten wurde eingerichtet, Hygieneartikel werden verteilt, Wasser steht bereit, ein paar Kleinigkeiten zu essen. Das Nötigste. Auf einem Papier steht in grossen Lettern: «EMERGENZA SIRIA» – Notfall Syrien. 

Gemeindemitarbeiter und Helfer von Save the Children kümmern sich um die syrischen Flüchtlinge.
Gemeindemitarbeiter und Helfer von Save the Children kümmern sich um die syrischen Flüchtlinge.Bild: mtk

Notdürftig wurde eine Empfangsstation für die Flüchtlinge eingerichtet, die Mailand erreichen – mit Zügen und Fernbussen aus Reggio Calabria, Neapel, Rom. Von den 14'500 Flüchtlingen, die seit Oktober im Durchschnitt für fünf Tage in Mailand gestrandet sind, kamen laut den Mailänder Behörden 10'500 allein in den letzten Monaten. Davon waren 3836 Kinder. Sie malen Bilder vom Krieg, von Zuhause, von dort, wo ihre Freunde sterben.

Keine Auskunft

Betreut werden sie von verschiedenen Hilfsorganisationen wie der Universiis Società Cooperativa Sociale, der Stiftung Progetto Arca und der grössten Kinderrechtsorganisation der Welt, Save the Childern. Die Universiis ist einem Leistungsauftrag der Mailänder Behörden verpflichtet. Sie kontrollieren alles – und jeden. Reden will niemand. Man dürfe keine Auskunft über die Arbeit hier am Mailänder Bahnhof geben, sagt eine Helferin, noch bevor der Autor die erste Frage gestellt hat. 

10 Uhr: Helfer bereiten sich auf das Ankommen der syrischen Flüchtlinge vor. 
10 Uhr: Helfer bereiten sich auf das Ankommen der syrischen Flüchtlinge vor. Bild: mtk

Ohnehin ist das Betreten des Flüchtlingsareals heikel. Die Behörden beobachten mit Argusaugen, wer über die Flüchtlinge am Mailänder Bahnhof berichtet. Bewilligungen sind nötig, werden erteilt und wieder zurückgezogen. Schlechte Presse will niemand. Man habe alles unter Kontrolle, heisst es.

20'000 Syrer in Schweden
Die Schweiz hat bisher 3000 syrischen Flüchtlingen die erleichterte Einreise gewährt. Innert dreier Jahre sollen zusätzlich 500 anerkannte Flüchtlinge aufgenommen werden. Zum Vergleich: Das 9,5-Millionen-Land Schweden hat bereits über 20'000 Syrer aufgenommen. (sza)  

Heute sind etwa 200 neue Flüchtlinge angekommen, am Abend werden sie vom Zivilschutz auf die verschiedenen Durchgangszentren verteilt. In Italien bleiben will niemand. Schweden und Deutschland, dahin wollen die Flüchtlinge. Auch der junge Mann aus Aleppo: 

«Schweden! Die nehmen viele Syrer auf, hab ich recht?»
Syrischer Flüchtling aus Aleppo
Jeden Tag versammeln sich hunderte neue Flüchtlinge auf dem Zwischenboden links neben der Treppe. 
Jeden Tag versammeln sich hunderte neue Flüchtlinge auf dem Zwischenboden links neben der Treppe. Bild: mtk

Die Gründe, weshalb die Menschen aus Syrien fliehen, sind mannigfaltig. Doch egal, für welche Seite sich die Menschen entschieden haben, gewonnen hat niemand. Auch der 28-jährige Deserteur nicht. Er steht auf dem Zwischendeck, dort, wo die Flüchtlinge jeden Tag stranden. Hier steht er, weil er keinen Tag länger unter Assad dienen wollte, die Gräuel nicht mehr ertrug. Deshalb sei ihm nur das Eine geblieben – die Flucht, wie er sagt. Aleppo, Libanon, irgendwie nach Ägypten, dann Libyen und schliesslich Italien. Wochenlang, eingepfercht in Camions, auf nassen Böden in Booten – und jetzt? Milano Stazione Centrale, dann Schweden. Wie, weiss er noch nicht, aber nie mehr zurück, das ist sicher.

«Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Ich durfte einfach nicht sterben.»
Syrischer Flüchtling

Von der ISIS verfolgt

Neben dem Deserteur sitzt ein Anwalt. Er habe ein gutes Leben geführt und liebe Syrien, erzählt der schmächtige Mann. Weg wollte er nie. «Ich habe für eine Menschenrechtsorganisation in Damaskus gearbeitet, dann wollte mir die ISIS an den Kragen», sagt er. «Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Ich durfte einfach nicht sterben.» 6000 Dollar – so viel blätterte er für die Flucht aus Syrien bis nach Mailand hin. Libanon, irgendwie nach Ägypten, dann Libyen, Algerien und von dort mit dem Flugzeug weiter nach Europa. Sein Ziel: Deutschland. Wie? «Keine Ahnung», sagt der Gestrandete, der gerade 38-jährig geworden ist. Vater und Mutter habe er zurückgelassen. Zu gebrechlich seien sie gewesen, um die strapaziöse Reise mitzumachen. Wie es ihnen geht? «Ich weiss es nicht.»

Die Ankunftshalle im Milano Stazione Centrale.
Die Ankunftshalle im Milano Stazione Centrale.Bild: mtk
«Überall wo wir hinkamen, herrschte Krieg. Es war die Hölle.»
Syrischer Flüchtling

Egal, aus welchem sozialen Milieu, egal welchen Alters; in Syrien leben, bedeutet auch in Syrien sterben. Mit 14, vor knapp drei Jahren bei Ausbruch des Krieges, sei er geflohen, habe drei Jahre in Libyen verbracht, erzählt der schüchterne junge Mann, dessen Pendant in der Schweiz ein Bub mit Flausen im Kopf ist. Mit drei Kumpels habe er sich aufgemacht, sich mehr schlecht als recht in Libyen über Wasser gehalten. «Überall wo wir hinkamen, herrschte Krieg. Es war die Hölle.» Doktor für Medizin, das sei sein Traumberuf, damit man etwas Sinnvolles tun, Menschen helfen kann. Nach Deutschland soll die Reise gehen. Wie? Inschallah. So Gott will.

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Machtlose Helfer

Während die Erwachsenen erzählen, bleiben die Kinder stumm. Sie malen. Bilder von zuhause, vom Krieg. Es sind Bilder von traumatisierten Kindern, die Grausames erlebt haben. «Die Kleinen kommunizieren über ihre Zeichnungen», sagt Valentina Polizzi, die als Anwältin bei Save the Children syrische Familien in Rechtsfragen betreut. Panzer, Gewehre, Blut, zerhackte Menschen – bunte Bilder gezeichnet von feiner Kinderhand. Man sei machtlos, sagt Polizzi. 

9. Juli: Aleppo nach einem Luftangriff der Assad-Truppen.
9. Juli: Aleppo nach einem Luftangriff der Assad-Truppen.AFP PHOTO /AMC/KHALED KHATIBBild: ALEPPO MEDIA CENTRE
«Täglich strömen immer mehr Flüchtlinge nach Europa. Wir versuchen sie zu erfassen, damit wir uns auch nur annähernd ein Bild dieser Mega-Katastrophe machen können.» 
Valentina Pozzi, Anwältin Save the Childern

Interessanterweise wird die Mehrheit der syrischen Flüchtlinge von den italienischen Behörden gar nicht registriert. Denn: Für sie sei Italien lediglich ein Durchgangsland, sagt Polizzi. Schweden und Deutschland, das sei ihr Ziel. Dort hätten sie die besten Chancen, Asyl zu bekommen. Und in die Schweiz? Nein, danke! So zumindest formuliert es ein Helfer, der nicht beim Namen genannt werden will. Er stehe mit dem Ehemann der syrischen Frau, die in der Schweiz bei der Rückschaffung eine Fehlgeburt erlitt und in deren Fall nun ermittelt wird, in Kontakt. 

Für die Schweiz habe der Vater des toten Kindes nichts mehr übrig, sagt der Helfer. Sie seien vom Krieg in ein friedliches Land geflohen, um ein Kind zu verlieren. Das habe ihnen die Hoffnung auf ein besseres Leben geraubt.

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4 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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zombie1969
16.07.2014 13:08registriert Januar 2014
Das einzige Nachhaltige was der gescheiterte "arabische Frühling" gebracht hat, sind erstarkte islamistische Kräfte. Und was Europa bislang aus der TV-Ferne erleben durfte, ist mit den Flüchtlingsströmen bereits hier angekommen. Und das ist erst der Anfang. Die Europäer werden noch hautnah erfahren, was "arabischer Frühling" im Klartext für sie genau heisst und bedeutet.
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