Die Menschen, die nicht auf die Schlachtbank geführt wurden in dem Krieg, der schon so viele Leben gekostet hat, landen entweder in Flüchtlingscamps oder hier – in Milano Stazione Centrale. Vier Bahnstunden von Zürich.
Die syrischen Flüchtlinge, die nach Wochen oder gar Jahren entbehrungsreicher Reise auf den Abgängen in der Haupthalle des monumentalen Mailänder Bahnhofs ins Leere starren, sind gezeichnet von den Strapazen, vom Krieg, vom Verlust der Heimat. Zuletzt stirbt bekanntlich die Hoffnung, doch in den matten Augen der Flüchtlinge ist auch diese nur noch schwer zu erkennen.
Stumm beobachten die Ankömmlinge, wie sich die schicken Mailänderinnen an den edlen Ständen verköstigen, in ihre Smartphones kichern, sich verabreden für ein ausgiebiges Essen – heute Abend irgendwo in Mailand, nett muss es sein. Es ist eine surreale Szene, die sich hier zuträgt. Ein Theater so absurd – es muss Europa sein. Das Chaos ist gewaltig. Eine Spielecke für die Kleinsten wurde eingerichtet, Hygieneartikel werden verteilt, Wasser steht bereit, ein paar Kleinigkeiten zu essen. Das Nötigste. Auf einem Papier steht in grossen Lettern: «EMERGENZA SIRIA» – Notfall Syrien.
Notdürftig wurde eine Empfangsstation für die Flüchtlinge eingerichtet, die Mailand erreichen – mit Zügen und Fernbussen aus Reggio Calabria, Neapel, Rom. Von den 14'500 Flüchtlingen, die seit Oktober im Durchschnitt für fünf Tage in Mailand gestrandet sind, kamen laut den Mailänder Behörden 10'500 allein in den letzten Monaten. Davon waren 3836 Kinder. Sie malen Bilder vom Krieg, von Zuhause, von dort, wo ihre Freunde sterben.
Betreut werden sie von verschiedenen Hilfsorganisationen wie der Universiis Società Cooperativa Sociale, der Stiftung Progetto Arca und der grössten Kinderrechtsorganisation der Welt, Save the Childern. Die Universiis ist einem Leistungsauftrag der Mailänder Behörden verpflichtet. Sie kontrollieren alles – und jeden. Reden will niemand. Man dürfe keine Auskunft über die Arbeit hier am Mailänder Bahnhof geben, sagt eine Helferin, noch bevor der Autor die erste Frage gestellt hat.
Ohnehin ist das Betreten des Flüchtlingsareals heikel. Die Behörden beobachten mit Argusaugen, wer über die Flüchtlinge am Mailänder Bahnhof berichtet. Bewilligungen sind nötig, werden erteilt und wieder zurückgezogen. Schlechte Presse will niemand. Man habe alles unter Kontrolle, heisst es.
Heute sind etwa 200 neue Flüchtlinge angekommen, am Abend werden sie vom Zivilschutz auf die verschiedenen Durchgangszentren verteilt. In Italien bleiben will niemand. Schweden und Deutschland, dahin wollen die Flüchtlinge. Auch der junge Mann aus Aleppo:
Die Gründe, weshalb die Menschen aus Syrien fliehen, sind mannigfaltig. Doch egal, für welche Seite sich die Menschen entschieden haben, gewonnen hat niemand. Auch der 28-jährige Deserteur nicht. Er steht auf dem Zwischendeck, dort, wo die Flüchtlinge jeden Tag stranden. Hier steht er, weil er keinen Tag länger unter Assad dienen wollte, die Gräuel nicht mehr ertrug. Deshalb sei ihm nur das Eine geblieben – die Flucht, wie er sagt. Aleppo, Libanon, irgendwie nach Ägypten, dann Libyen und schliesslich Italien. Wochenlang, eingepfercht in Camions, auf nassen Böden in Booten – und jetzt? Milano Stazione Centrale, dann Schweden. Wie, weiss er noch nicht, aber nie mehr zurück, das ist sicher.
Neben dem Deserteur sitzt ein Anwalt. Er habe ein gutes Leben geführt und liebe Syrien, erzählt der schmächtige Mann. Weg wollte er nie. «Ich habe für eine Menschenrechtsorganisation in Damaskus gearbeitet, dann wollte mir die ISIS an den Kragen», sagt er. «Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Ich durfte einfach nicht sterben.» 6000 Dollar – so viel blätterte er für die Flucht aus Syrien bis nach Mailand hin. Libanon, irgendwie nach Ägypten, dann Libyen, Algerien und von dort mit dem Flugzeug weiter nach Europa. Sein Ziel: Deutschland. Wie? «Keine Ahnung», sagt der Gestrandete, der gerade 38-jährig geworden ist. Vater und Mutter habe er zurückgelassen. Zu gebrechlich seien sie gewesen, um die strapaziöse Reise mitzumachen. Wie es ihnen geht? «Ich weiss es nicht.»
Egal, aus welchem sozialen Milieu, egal welchen Alters; in Syrien leben, bedeutet auch in Syrien sterben. Mit 14, vor knapp drei Jahren bei Ausbruch des Krieges, sei er geflohen, habe drei Jahre in Libyen verbracht, erzählt der schüchterne junge Mann, dessen Pendant in der Schweiz ein Bub mit Flausen im Kopf ist. Mit drei Kumpels habe er sich aufgemacht, sich mehr schlecht als recht in Libyen über Wasser gehalten. «Überall wo wir hinkamen, herrschte Krieg. Es war die Hölle.» Doktor für Medizin, das sei sein Traumberuf, damit man etwas Sinnvolles tun, Menschen helfen kann. Nach Deutschland soll die Reise gehen. Wie? Inschallah. So Gott will.
Während die Erwachsenen erzählen, bleiben die Kinder stumm. Sie malen. Bilder von zuhause, vom Krieg. Es sind Bilder von traumatisierten Kindern, die Grausames erlebt haben. «Die Kleinen kommunizieren über ihre Zeichnungen», sagt Valentina Polizzi, die als Anwältin bei Save the Children syrische Familien in Rechtsfragen betreut. Panzer, Gewehre, Blut, zerhackte Menschen – bunte Bilder gezeichnet von feiner Kinderhand. Man sei machtlos, sagt Polizzi.
Interessanterweise wird die Mehrheit der syrischen Flüchtlinge von den italienischen Behörden gar nicht registriert. Denn: Für sie sei Italien lediglich ein Durchgangsland, sagt Polizzi. Schweden und Deutschland, das sei ihr Ziel. Dort hätten sie die besten Chancen, Asyl zu bekommen. Und in die Schweiz? Nein, danke! So zumindest formuliert es ein Helfer, der nicht beim Namen genannt werden will. Er stehe mit dem Ehemann der syrischen Frau, die in der Schweiz bei der Rückschaffung eine Fehlgeburt erlitt und in deren Fall nun ermittelt wird, in Kontakt.
Für die Schweiz habe der Vater des toten Kindes nichts mehr übrig, sagt der Helfer. Sie seien vom Krieg in ein friedliches Land geflohen, um ein Kind zu verlieren. Das habe ihnen die Hoffnung auf ein besseres Leben geraubt.