Sind die USA nach wie vor die «indispensable nation», die unverzichtbare Nation, wie die frühere US-Aussenministerin Madelene Albrigth sie einst nannte? Oder sind sie eine zerfallende Supermacht, wie Donald Trump und die Rechte jammern? Diese Frage untersucht Derek Chollet in seinem Buch «The Long Game» (Der langfristige Plan). Er war in verschiedenen Positionen hautnah am Puls der US-Aussenpolitik der letzten Jahre.
George W. Bush hat seinem Nachfolger einen Saustall hinterlassen: «Die Wirtschaft näherte sich einer zweiten Grossen Depression», schreibt Chollet. «Millionen von Amerikaner waren arbeitslos geworden; die Industrie stand vor dem Kollaps; über 150'000 Soldaten befanden sich in einem Krieg, der auf Pump finanziert wurde; Amerikas Prestige und moralisches Ansehen befanden sich auf einem Tiefpunkt.»
Bushs Aussenpolitik war, wie es in der Fachsprache heisst, unilateral. Plump ausgedrückt heisst dies: Die USA sagen, wo es lang geht. Entweder Ihr seid mit uns oder gegen uns. Basta. Barack Obama hingegen plädierte für einen Neustart, für einen Reset, und zwar nicht nur mit Russland, sondern mit der gesamten Welt.
Die USA sollten nicht mehr ein bedrohlicher Weltpolizist sein, sondern ein einflussreicher Vermittler, der seinen Einfluss unspektakulär hinter den Kulissen ausübt. «Don’t do stupid stuff» (Mach keinen Blödsinn) lautete folgerichtig die neue Maxime im Weissen Haus, wobei man sich unter Blödsinn etwa den Irak-Krieg vorzustellen hatte.
Obama wollte Asien, vor allem China, ins Zentrum seiner Aussenpolitik rücken – im Wissen, dass nichts mehr die Welt des 21. Jahrhunderts bestimmen wird als die Beziehung zwischen der bestehenden und der aufstrebenden Supermacht. Ein schwieriges Unterfangen, Chollet vergleicht die Beziehung zwischen den USA und China mit Wasserball: Oberhalb des Wassers gibt man sich sportlich fair, unter Wasser wird getreten und gekratzt, was das Zeug hält.
In seiner Berliner Rede vor der Wahl hatte Obama in Europa grosse Euphorie ausgelöst. Er war so etwas wie die Gegenthese zum tumben George W. Einmal im Weissen Haus konnte er diese Erwartungen nur enttäuschen. «(Die Berliner Rede) richtete die Bühne ein für eine gegenseitige Enttäuschung, welche die Beziehung (zwischen den USA und Europa, Anm. d.Red.) prägen sollte», so Chollet.
Obama wollte, dass die Europäer sich vermehrt auf ihre eigenen Beine stellen und ihren Teil zur Nato beitragen sollten. Die Europäer sahen in ihm einen liberalen Heilsbringer, der er nie war. Das Ganze endete in einer Reihe von Missverständnissen und einer verkorksten Partnerschaft.
Nicht nur die Diktatoren in Ägypten und Tunesien wurden vom arabischen Frühling auf dem falschen Fuss erwischt, auch Barack Obamas langfristiger Plan wurde durchkreuzt. Er wurde gezwungen, seine Karten auf den Tisch zu legen. Was sind Amerikas Kerninteressen? Mit welchen Instrumenten kann man sie durchsetzen? Wann, wo und wie sollen die Vereinigten Staaten militärische Gewalt anwenden? Wie managen sie den Konflikt ihrer Interessen und ihrer moralischen Ansprüche?
Libyen ist für die USA weder wirtschaftlich noch strategisch interessant. Ein Feldzug wie zuvor im Irak kam nie in Frage. Obama wählte daher eine Strategie, die unter dem Schlagwort «leading from behind» bekannt wurde. Die Europäer sollten an der Front wirken, die Amerikaner das Ganze unauffällig im Hintergrund managen.
Der Plan ging nicht auf. Als Ghaddafis Truppen sich der Stadt Benghazi näherten, drohte ein Gemetzel wie heute in Aleppo stattfindet. Obama musste handeln. «Er hatte Angst, dass der amerikanische Anspruch auf Leadership massiv beeinträchtigt würde, wenn er einfach tatenlos zugesehen hätte, wie die europäischen Verbündeten ins Trudeln gerieten», schreibt Chollet.
Die Europäer konnten nicht, die Amerikaner wollten nicht – das konnte nicht gut gehen. Die Intervention in Libyen war ein Desaster und heute ist die Lage katastrophal. Es ist leicht – wie dies Donald Trump und die Rechten pausenlos tun – Obama und Hillary Clinton ein Versagen unter die Nase zu reiben. Aber was wären die Alternativen gewesen? Ein Eingreifen mit Bodentruppen stand nie zur Diskussion. Und hätte man Ghaddafi weiter seinen Krieg gegen das eigene Volk führen lassen sollen?
Der Konflikt im Nahen Osten zeigt, wie die USA von den Gespenstern ihrer Geschichte immer wieder eingeholt werden. Dazu stellt Chollet fest: «Im Irak sind die USA einmarschiert und haben das Land besetzt. Das Resultat war ein teurer Konflikt, dessen Konsequenzen Amerika noch für Generationen beschäftigen wird. In Libyen haben die USA interveniert, sind aber nicht einmarschiert. Das Resultat ist eine chaotische Instabilität. In Syrien haben die USA weder interveniert, noch sind sie einmarschiert. Das Resultat ist für die Menschen in Syrien und die Region katastrophal.»
Syrien gilt als hässlicher Fleck auf Obamas aussenpolitischer Weste. Hätte er doch seine Drohung wahr gemacht und Assad angegriffen, als dieser die berühmt-berüchtigte rote Linie überschritten und Giftgas gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hatte, jammern heute selbst liberale Kritiker. Für die Rechten ist Syrien der Beweis, dass Obama ein ängstlicher Wackelpudding ohne klare Strategie ist.
Chollet schafft hier Klarheit: Erstens war die rote Linie ein Kommunikationsflop des Weissen Hauses. Es war nicht als Drohung gedacht, sondern als ein Kommentar zur aktuellen Lage. Zweitens hatte Assad im Gegensatz zu Saddam Hussein tatsächlich Giftgas, und zwar in rauen Mengen. Die syrischen Chemiewaffen stellten eine der grössten Bedrohungen im Nahen Osten dar, auch für Israel. Selbst den Russen war dieses Arsenal nicht geheuer.
Ein direkter US-Angriff auf Assad hätte unabschätzbare Folgen haben können. Obama griff daher sofort zu, als Putin ihm den Vorschlag machte, gemeinsam die syrischen Chemiewaffen zu vernichten. Das ist inzwischen auch geschehen. Die chemische Zeitbombe wurde so entschärft, ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert werden musste.
Obama hier Schwäche vorzuwerfen, ist daher unsinnig. Er hat im Gegenteil besonnen und erfolgreich agiert. «Perverserweise ist die Entsorgung des syrischen Chemiewafffen-Arsenals für Kritiker im In- und Ausland eine Kleinigkeit», stellt Chollet fest. «Obama hätte Amerikas besudelte Ehre retten sollen. Es scheint, als ob die Kritiker mehr Wert darauf legen, Stärke zu zeigen als nachhaltige Lösungen zu erzielen.»
Donald Trump nennt Barack Obama den «Vater von ISIS». Das ist natürlich grotesk. Aber auch der republikanische Senator und Militärexperte John McCain ist überzeugt, dass Obama die Entstehung der Terrortruppe hätte verhindern können, wenn er die US-Truppen nicht abgezogen und im Irak ein Vakuum hinterlassen hätte.
Das Gegenteil ist richtig, wie Chollet nachweist: «Über 100'000 US-Soldaten konnten den Vorgänger der ISIS, die al-Qaida, im Irak nicht verhindern. Tatsache ist, dass die US-Präsenz ein Magnet für Terroristen ist.»
Für Obama ist ISIS nicht primär eine militärische Bedrohung. «ISIS ist Anlass für grosse Sorgen, aber keine Bedrohung für die Vereinigten Staaten, wie das etwa Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg war oder die Aussicht auf eine atomare Vernichtung im Kalten Krieg», stellt Chollet fest. Die grösste Gefahr von ISIS sieht Obama darin, dass es ihr gelingen könnte, den langen Plan seiner Aussenpolitik zu durchkreuzen.
Das Atomabkommen mit dem Iran gilt als Obamas grösster aussenpolitischer Erfolg. Zu Recht. Unter seinem Vorgänger waren die Beziehungen nicht mehr existent. Iran war bekanntlich Mitglied von George W. Bushs «Achse des Bösen» und setzte daher alles daran, in den Besitz von Atomwaffen zu kommen. Das wiederum machte Israel mehr als nervös. Meldungen über einen bevorstehen Angriff der US-Luftwaffe auf iranische Uranfabriken waren noch vor Kurzem weit verbreitet. Ein solcher Angriff hätte das Pulverfass im Nahen Osten explodieren lassen.
Obama ging sehr pragmatisch vor: Zuerst gelang es ihm, die internationalen Sanktionen gegen den Iran so zu verschärfen, dass es für die Ayatollahs schmerzhaft wurde. In mühsamen Verhandlungen – meist geführt von der damaligen Aussenministerin Hillary Clinton – konnte schliesslich ein Vertrag ausgehandelt werden, der die Gefahr eines Irans mit Atomwaffen für mindestens zehn Jahre ausschliesst. Schliesslich konnte dieser Vertrag auch gegen den erbitterten Widerstand der Republikaner und Israels durch den Kongress geboxt werden.
Das Abkommen mit dem Iran zeigt Obama in Hochform. «Anstatt dass die USA wie im Irak auf eigene Faust losmarschiert sind und dabei die eigenen Verbündeten verstimmten, haben sie im Fall des Iran zuerst ihre Position etabliert, ihren Einfluss gestärkt und schliesslich die Welt für eine gemeinsame Sache hinter sich geschart», stellt Chollet fest.
Als Obama ins Weisse Haus einzog, war Dmitri Medwedew formell russischer Präsident. Er galt als die liberalere Ausgabe von Wladimir Putin, der sich auf das Amt des Premierministers zurückgezogen hatte. Obama bot Medwedew ein Reset an, einen Neuanfang der Beziehung zwischen den USA und Russland.
Das ging bald schief. Als Putin im Dezember 2011 wieder zum russischen Präsidenten gewählt wurde, wurden die Beziehungen zum Kreml eisig. Die Atmosphäre gegenüber dem Westen in Moskau ist seither von Verschwörungstheorien und Misstrauen geprägt.
Obama sieht in Russland keine Grossmacht. «Er ist überzeugt, dass das Land mehr von Schwäche als von Stärke getrieben ist», schreibt Chollet. «Er bezeichnet Russland als Regionalmacht mit einer starken Armee.»
Die Krise in der Ukraine und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim sind in dieser Sichtweise ein Ausdruck von Russlands Schwäche. Obama reagierte wie im Fall des Iran: Er scharte die internationale Gemeinschaft hinter sich und verhängte Sanktionen.
Wiederum sehen Kritiker in diesem Vorgehen ein Zeichen der Schwäche. Wieder zu Unrecht. Putin hat mit seinem Vorgehen die Nato aus ihrem Dämmerschlaf gerissen und dafür gesorgt, dass energische Gegenmassnahmen ergriffen worden sind. «Einige mögen in der Ukraine-Krise und der Bedrohung eines aufstrebenden Russlands eine fundamentale Krise der Nato sehen», stellt Chollet fest. «Tatsächlich jedoch haben die Ereignisse seit 2014 den grössten Wandel im transatlantischen Sicherheitsbündnis seit 9/11 bewirkt.»
Obama hat den Übernamen «no drama Obama», will heissen: Er bleibt auch in den schwierigsten Situationen cool. Gleichzeitig gibt er sich intellektuell, männliches Machtgehabe ist ihm fast körperlich zuwider. Das führt zu einer gegensätzlichen Wahrnehmung. Die einen sehen in ihm einen weltfremden Idealisten, die anderen einen kaltblütigen, unsentimentalen Realisten.
Beides ist falsch. Chollet vergleicht Obama mit dem berühmtesten Investor der Welt, mit Warren Buffett. Auch er analysiert ein Unternehmen lange, bevor er seine Aktien kauft und behält sie dann möglichst für immer. «Obama versucht, ein Warren Buffett der Aussenpolitik zu sein, eine Debatte, die von Day Tradern dominiert wird.»