In Brüssel tobt derzeit ein Machtkampf um die Nachfolge von EU-Kommissionspräsident José-Manuel Barroso. Angeführt von den Briten will das eine Lager auf jeden Fall verhindern, dass der ehemalige Premierminister von Luxemburg, Jean-Claude Juncker, gewählt wird.
Für das andere Lager, angeführt von den nordeuropäischen Konservativen, hat eben dieser Juncker die Wahlen gewonnen und ist deshalb der einzig demokratisch legitimierte Kommissionspräsident. Entscheidend wird einmal mehr sein, auf welche Seite sich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel schlagen wird.
Ob Juncker oder nicht Juncker ist weit mehr als eine persönliche Machtfrage. Es geht auch nur am Rande darum, ob Rechte oder Linke das Schicksal Europas bestimmen. Es geht vielmehr darum, wie geschlossen die EU zukünftig gegen Abweichler vorgehen will. Daher ist der Ausgang der Wahl auch für die Schweiz von grosser Bedeutung.
Zur Ausgangslage: Bei der Wahl zum Europaparlament traten die beiden grössten Lager, die Rechtskonservativen und die Linksliberalen mit zwei Spitzenkandidaten an. Wie bei nationalen Urnengängen wollten sie damit den Wählern eine echte Alternative anbieten. Juncker war der Kandidat der Konservativen, die Linke schickte den deutschen SPD-Mann Martin Schulz ins Rennen. Die Konservativen haben gewonnen, so gesehen wäre Juncker die logische Wahl.
In der EU ticken aber viele Uhren anders. Das Europaparlament muss die Wahl des Kommissionspräsidenten zwar bestätigen, wählen kann es ihn jedoch nicht. Dieses Privileg ist den Staatsoberhäuptern vorbehalten, und diese sind sich alles andere als einig.
Vor allem die Briten wollen Juncker um jeden Preis verhindern. Er stellt für sie das typische Beispiel eines EU-Föderalisten dar, der immer mehr Integration will. Juncker steht somit für alles, was die Briten an der EU hassen. Zudem soll er keinen Sinn für Humor haben. Die Briten werden unterstützt von den Schweden und den Ungarn.
Juncker hat jedoch auch eine starke Lobby, vor allem in Deutschland. So liess der Chef des Springerverlages, Matthias Döpfner, via «Bild»-Zeitung ausrichten: «Es ist klar, dass die Europäer Juncker gewählt haben». Auch die unterlegene Linke im Europarat spricht sich für den Luxemburger aus. Sonst, so die Argumentation, wären die Wähler mit den vermeintlichen Spitzenkandidaten getäuscht und die Demokratie missbraucht worden.
Das erste Treffen der Staatsoberhäupter hat kein Ergebnis gebracht. Sie konnten sich weder auf Juncker noch eine Alternative einigen. Doch offensichtlich stiess der britische Premier David Cameron mit seiner anti-Juncker-Kampagne auf wenig Gegenliebe. Dem Vernehmen nach soll ihn Merkel im letzten Moment vor einer peinlichen Niederlage bewahrt und die Wahl vertagt haben. Die Kanzlerin hat auch erklärt, dass die Wahl Junckers noch keineswegs gesichert sei.
Trotzdem hat Cameron keine guten Karten. Mit ihrem steten Bemühen nach Sonderwünschen gehen die Briten den anderen EU-Mitglieder gewaltig auf den Keks. «Warum sollen ausgerechnet die Stänkerer erhalten, was sie wollen?», fragen sich ich die anderen und brennen darauf, den Briten eine Lektion zu erteilen. Die Wahl von Juncker wäre eine perfekte Gelegenheit dazu, und mit dem Demokratie-Argument auch ein perfektes Alibi für eine Strafaktion. Selbst die im Europaparlament unterlegene Linke unterstützt die Wahl Junckers.
Durch die Schweizer Brille betrachtet sieht dies ganz anders aus. Auch wir haben in Brüssel sehr viel Goodwill verspielt und gelten als nervige Rosinenpicker. Sollte Juncker gewählt werden, dann wäre dies nicht nur ein Wink nach London. Es wäre auch ein klares Zeichen nach Bern: Die Zeit für Sonderwünsche ist vorbei – und zwar definitiv.