Helmut Schmidt ist nicht nur der am meisten geachtete Politiker Europas, er ist auch alles andere als ein romantischer Schwärmer. «Wer Visionen hat, sollte einen Arzt aufsuchen», pflegte der deutsche Ex-Kanzler gerne zu spotten. Trotzdem hat er in der jüngsten Ausgabe der «Zeit» einen geradezu pathetischen Appell verfasst: «Europa muss Solidarität mit den Griechen zeigen. Aber auch mit den Flüchtlingen», schreibt Schmidt.
Bisher ist die Griechenland-Krise weitgehend von Technokraten gemanagt worden. Die Politiker haben sich vornehm im Hintergrund gehalten und die Finanzspezialisten des IWF, der EZB und EU-Bürokraten nach Athen geschickt. Sie taten, was Technokraten halt so tun: Sie stellen Sanierungspläne auf und fordern Budgetkürzungen.
Die Rechnung ist nicht aufgegangen. Die griechische Wirtschaft ist stärker eingebrochen als die deutsche während der Grossen Depression. Heute steht das Land wirtschaftlich am Abgrund und politisch vor einem Chaos.
Nach fünf Jahren sinnlosem Leiden haben die Griechen die Schnauze voll. Gemäss der Losung von Albert Einstein, wonach es wahnsinnig sei, beim immer gleichen Experiment einen anderen Ausgang zu erwarten, haben sie einen Aufstand gegen die Technokraten gewagt. Die Rache folgte auf den Fuss. Am vergangenen Donnerstag sah es noch so aus, als ob es zu einer einvernehmlichen Lösung kommen könnte. Dann kam überraschend die Forderung der Technokraten, dass alles mehr oder weniger wie bisher weiterlaufen müsse.
Die griechische Regierung konnte gar nicht anders als abzulehnen. Sie hat ein Referendum angekündigt, bei dem die Griechen darüber abstimmen können, ob sie die Bedingungen annehmen wollen oder nicht. Die Regierung empfiehlt, den Vorschlag abzulehnen.
Damit ist unverhofft eine Situation entstanden, die ausser Kontrolle zu geraten droht. Stimmen die Griechen Ja, dann ist die SYRIZA-Regierung diskreditiert und müsste eigentlich zurücktreten. Vielleicht ist das gar der Plan der Technokraten, Ministerpräsident Alexis Tsipras und seinen verhassten Finanzminister Yanis Varoufakis auf diese Weise elegant loszuwerden.
Wenn ja, dann ist es ein lausiger Plan. Angenommen, die SYRIZA-Regierung wird gestürzt, mit wem soll weiterverhandelt werden? Mit den bisherigen Parteien, welche die ganze Misere verursacht haben?
Bei einem Nein wird ein «Grexit» kaum mehr zu vermeiden sein. Aber wie? Eine neue Währung einzuführen ist eine komplexe Angelegenheit und braucht eine lange Vorbereitungszeit. Erfolgt dies über Nacht, dann kann es nicht vorgesehene Konsequenzen haben und zu einem Chaos führen.
Ein «Grexit» hätte zudem eine Prozessflut zur Folge. Griechenland wäre noch weniger in der Lage, seine ohnehin exorbitanten Staatsschulden wenigstens teilweise zu begleichen. Auch in der Privatwirtschaft würden die Verhältnisse aus dem Ruder laufen. Wie etwa würde ein griechisches Unternehmen die Rechnung eines italienischen Lieferanten begleichen? Mit Euros oder Drachmen?
Politisch hätte ein «Grexit» ebenfalls unabsehbare Folgen. Griechenland würde wohl auch aus der EU austreten. Für den Westen ein geopolitischer Albtraum. Angesichts der Flüchtlingsproblematik, aber auch der Krise in der Ukraine ist ein Einfallstor am Mittelmeer so ziemlich das Letzte, was man sich wünschen kann.
Innenpolitisch könnte ein «Grexit» die ohnehin schon prekäre wirtschaftliche Situation noch weiter verschärfen und im schlimmsten Fall Rechtsstaat und Zivilgesellschaft zu Fall bringen. Der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers warnt bereits vor einem «failed state».
Allmählich wird klar, dass die Griechenland-Krise zur Gefahr für Europa geworden ist und nicht mehr technokratisch gelöst werden kann. US-Präsident Barack Obama und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel haben am Sonntag miteinander telefoniert und verlauten lassen, es sei äusserst wichtig, dass alles unternommen werde, damit die Griechen innerhalb der Eurozone wieder auf den Wachstumspfad finden würden. IWF-Direktorin Christine Lagarde gibt sich nun ebenfalls versöhnlich und erklärte ihre Bereitschaft, weiterhin mit den Griechen zu verhandeln.
Technokratisches Weiterwursteln allein wird nicht mehr reichen, und die Politik kann nicht mehr damit rechnen, dass die EZB mit Notkrediten den Kollaps verhindern kann. In der Griechenland-Frage vermengen sich Konflikte, die existenziell für Europa geworden sind. Dazu zählen die Frage der Einheitswährung, die Krise in der Ukraine und die Flüchtlingsproblematik.
Diese Probleme können nicht mit der Höhe des Mehrwertsteuersatzes gelöst werden. Europa muss sich die Frage stellen, ob es langsam wieder in Nationalstaaten zerfallen oder die Gemeinschaft neu definieren will. Oder wie Helmut Schmidt schreibt: «Wir müssen uns den akuten Problemen unseres Kontinents solidarisch stellen.»