«Unsere Zeit entspricht, überspitzt ausgedrückt, den 60er- und 50er-Jahren vor Christus der römischen Republik. Genau wie damals befindet sich der Westen in einer Krise ohne Alternative», erklärte der Historiker David Engels kürzlich in einem Interview mit der «SonntagsZeitung».
Engels befindet sich in guter Gesellschaft. Der dreiteilige Roman über Cicero von Richard Harris ist weltweit ein Bestseller geworden. Die renommierte Historikerin Mary Beard stellt in ihrem Buch über das alte Rom «SPQR» fest: «Der Kampf zwischen Cicero und Catilina wurde zu einer Vorlage für politische Konflikte schlechthin.»
Worum geht es? In der fraglichen Zeit wurde das römische Reich definitiv zur Supermacht. Das bedeutete auch, dass eine schmale und sehr reiche Elite entstand. «Es bestand ein enormer Wohlstandsunterschied zwischen reich und arm», schreibt Beard, «der grösste Teil der Bevölkerung lebte unter miserablen Bedingungen und litt unter permanentem Hunger.»
Innerhalb der Oligarchie kam es zu Verteilungs- und Machtkämpfen. Zuerst lag die Macht in den Händen eines Triumvirats. Es bestand aus den beiden erfolgreichen Kriegsherren Pompeius und Caesar sowie Crassus, dem reichsten Geschäftsmann Roms. Dann versuchte sich Crassus ebenfalls als Kriegsherr und wurde getötet.
Zwischen Pompeius und Caesar kam es danach zum Bürgerkrieg, den Caesar gewann. Caesar wurde von Senatoren ermordet, die seine Allmacht verhindern wollten. Darauf verbündeten sich Marcus Antonius und Octavian gegen die Senatoren, besiegten sie und brachten Cicero um.
Bald brach ein neuer Bürgerkrieg zwischen Marcus Antonius und Octavian aus. Octavian ging als Sieger hervor, nannte sich fortan Augustus und entmachtete den 600-köpfigen Senat.
Diese Entwicklung sieht David Engels auf uns zukommen. «Die fundamentalen politischen Freiheitsrechte werden, wie unter Augustus, zu Makulatur werden – aber keiner wird es wohl merken, denn schon jetzt wähnt der Bürger seine Stimme ja ohne jegliche Bedeutung», sagt er.
Das Duell Cicero gegen Catilina ist typisch für die Wirren dieser Zeit. Cicero war Konsul, Catilina wäre es gerne geworden, wurde aber von Cicero ausgetrickst. Aus Wut darüber wurde er zu einem populistischen Demagogen und plante einen Putsch. Catilinas Pläne wurden aufgedeckt, er musste fliehen und wurde später in einem Gefecht mit römischen Truppen getötet. Seine Mitverschwörer liess Cicero hinrichten.
Damals gab es schon jede Menge Verschwörungstheorien: Wie weit hat Caesar Catilina heimlich unterstützt? Welche Rolle spielte der steinreiche Crassus? War Catilina ein machtgieriger Schurke oder ein Held des armen Volkes? All dies wurde intensiv diskutiert – und niemals geklärt.
Die Parallelen zur heutigen Zeit sind mit den Händen zu greifen, Harris meisterhafter Cicero-Roman kann locker mit «House of Cards» mithalten. Auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind sehr ähnlich. Bald vier Jahrzehnte Neoliberalismus haben ebenfalls zu einer gewaltigen Kluft von arm und reich geführt.
Wie im alten Rom ist in den beiden Grossmächten Russland und China bereits eine Oligarchie an der Macht. In der Supermacht USA zeichnet sich diese Entwicklung ab. Die Politik wird von Milliardären wie den Koch-Brüdern oder dem Trump-Sponsor Robert Mercer gekauft und als Intrige innerhalb einer schmalen Elite ausgetragen. Die Bürgerinnen und Bürger werden zu Zuschauern eines mit grossem finanziellen Aufwand betriebenen Politspektakels.
Die Folgen sind Polarisierung der Gesellschaft und wachsende Unruhen. «Das wird zu einem Dauerzustand werden, mit ausgedehnten No-go-Zonen, Schattenwirtschaft, Parallelgesellschaften, einem währungstechnischen Crash, völliger politischer Paralyse und steigender Bedeutung von Milizen und Selbstjustiz», prophezeit Engels.
In den USA hat der Präsident die Medien zum Feind des Volkes erklärt. Seine ihm ergebene Partei beherrscht beide Kammern des Kongresses und auch der oberste Gerichtshof wird bald von einer konservativen Mehrheit dominiert sein. Ist Donald Trump bald so mächtig wie einst Augustus? «Ich glaube nicht, dass Trump sich lange halten wird», sagt Engels. «Der US-Präsident erinnert mich eher an Catilina und Clodius, die Populisten der römischen Republik, welche mit ihrer Demagogie die Krise nur verschlimmern, ohne zu ihrer Lösung beizutragen.»
Trotzdem sind die Aussichten insgesamt düster. Engels befürchtet eine neue Ordnung, die «durchaus Züge des italienischen Faschismus tragen (könnte), der sich ja dem augusteischen Regime sehr nahe fühlte.»