Avenir Suisse, der Think-Tank der Schweizer Wirtschaft, hat kürzlich seine jüngste Studie «Handel statt Heimatschutz» vorgestellt. Sämtliche Ladenhüter der letzten 50 Jahre werden einmal mehr aufgewärmt: Die Bauern müssen endlich die Grenzen für EU-Importe öffnen, die Dienstleistungen müssen weiter liberalisiert und noch mehr Handelsverträge abgeschlossen werden. Es ist zum Heulen.
Tapfer warnt der neue Avenir-Suisse-Direktor Peter Grünenfelder vor den Gefahren für die Schweiz, wenn sie vom TTIP ausgeschlossen wird. Dabei ist dieser geplante Freihandelsvertrag zwischen den USA und der EU de facto klinisch tot.
Unverdrossen wirbt Grünenfelder für eine «weitere wirtschaftliche Öffnung der Schweiz», obwohl die Frage der Personenfreizügigkeit die Innenpolitik fest im Griff hat. Aussenpolitisch mehr als fragwürdig ist es schliesslich, wenn Avenir Suisse fordert, Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Russland abzuschliessen und eines mit den Philippinen zu ratifizieren. (Lesen die eigentlich nie den aussenpolitischen Teil der NZZ?)
Grünenfelder beruft sich auf die «wirtschaftliche Vernunft». Damit meint er das Gesetz des komparativen Wettbewerbsvorteils. Es besagt, dass beim Handel zwischen Ländern alle Seiten davon profitieren. Tatsächlich hat der aufkommende Freihandel nach dem Ende des Kalten Krieges dafür gesorgt, dass der Wohlstand gestiegen und mehrere hundert Millionen Menschen der Armut entrinnen konnten, vor allem in Asien.
Im 21. Jahrhundert lässt sich das jedoch nicht wiederholen. Das gesteht gar der «Economist» ein, ein Magazin, das einst zur Förderung des Freihandels ins Leben gerufen wurde. «Weil die Preise für grosse Anschaffungen (z.B. Autos, Anm. d. Red.) weiterhin stark fallen, werden Standorte, die über einen grossen Pool von billigen Arbeitskräften verfügen – wie Indien und Afrika –, es schwer haben, in die globale Wertschöpfungskette einzudringen, wie es China so erfolgreich getan hat», stellte das Magazin jüngst fest.
Mit anderen Worten: Die Welt braucht keine zusätzliche Milliarde von Automechanikern und IT-Technikern, und sie braucht auch zunehmend weniger Handel. Das zeigen die jüngsten Zahlen des Internationalen Zahlungsfonds. Seit 2012 ist der globale Handel gerademal um drei Prozent gewachsen, weniger als die Hälfte als in den vorangegangenen Jahrzehnten.
Die Welthandelsorganisation WTO sagt gar voraus, dass im laufenden Jahr der globale Handel bloss um 1,7 Prozent zunehmen wird. Zum ersten Mal seit der Ölkrise in den Siebzigerjahren wird der Handel weniger stark zulegen als das Wirtschaftswachstum. Es gibt also einen Grund, warum derzeit auf den Weltmeeren scharenweise Supertanker untätig vor Anker liegen.
Die De-Globalisierung hat nicht nur politische Gründe. Das betont beispielsweise Thomas Straubhaar, ein in Hamburg lebender Schweizer Ökonom. In der «Welt» hat er kürzlich geschrieben: «Anstatt zentral zu produzieren und Güter mit immer grösseren Schiffen über immer weitere Distanzen zu transportieren, erlauben neue Technologien eine dezentrale Fertigung und Leistungserbringung an Ort und Stelle des Endverbrauchers. Anstatt Waren zu den Menschen zu bringen, kommt die Produktion zum Menschen.»
Die globale Supply Chain, die dafür sorgt, dass Einzelteile tausende von Kilometern herumgekarrt werden, wird zunehmend obsolet. «Die Digitalisierung macht eine Verlagerung von zentraler zu dezentraler Wertschöpfung attraktiver», so Straubhaar. «Eine lokale Leistungserbringung erlaubt, Kostenvorteile zu heben. Vor Ort hergestellte, kundengerechte Speziallösungen verbessern die Qualität und die Nutzerzufriedenheit gegenüber zentraler Produktion. De-Globalisierung und Dezentralisierung sind die Folgen. Sie werden die Zukunft prägen.»
Dani Rodrik, ein auf internationalen Handel spezialisierter Harvard-Ökonom, hält die Angst vor einer De-Globalisierung für übertrieben. «Ökonomen vergleichen den Welthandel oft mit einem Radfahrer, der umfällt, wenn er nicht mehr radelt», schrieb er kürzlich in der «Financial Times». Doch dass die offene Weltwirtschaft bei einem Nichtzustandekommen von TTIP und TPP zusammenbrechen würde, sei Unsinn.
Viel wichtiger sei es, so Rodrik weiter, die Frustrationen des Mittelstandes endlich ernst zu nehmen und mit Steuer- und anderen Geschenken aufzuhören. «Wenn ausländische Investoren speziellen Schutz vor dem nationalen Recht fordern, dann sollte die Antwort Nein lauten», so Rodrik. «Vor allem sollten die Politiker endlich damit aufhören, sich hinter der Globalisierung zu verstecken. Wenn sie für Reformen plädieren, dann weil diese Reformen im nationalen Interesse sind und nicht, weil es der internationale Wettbewerb angeblich fordert.»
Anti-Globalisierung war bisher eine Domäne der Rechtspopulisten wie Donald Trump oder von NGOs wie Greenpeace. Die De-Globalisierung ist im Mainstream angekommen. So hat die neue Chefin der britischen Konservativen, Theresa May, in ihrer Rede vor dem Parteitag Neoliberalismus und Hyperglobalisierung eine deutliche Absage erteilt. Wie die Schweizer Gewerkschaften will sie die britischen Arbeitnehmer vor den Härten des unkontrollierten internationalen Wettbewerbs schützen – und wie die SVP die Zuwanderung beschränken.
Wie tauglich dieser neue soziale Konservatismus sein wird, wird sich weisen. Sicher ist auf jeden Fall, dass die alte Leier von «Freihandel ist immer gut» definitiv ausgedient hat. Wirtschaftliche Vernunft in Ehren, aber wenn sie zu politischer Unvernunft führt, ist sie kontraproduktiv. Auch Avenir Suisse sollte allmählich umdenken. Wie wäre es mit einer Studie über eine dezentrale, ökologische Schweizer Wirtschaft?