Nestlé und Peter Brabeck sind zwei Reizwörter. Der Nahrungsmittel-Multi ist Sinnbild für eine ungesunde Ernährungsweise. Brabeck hat sich mit seiner Forderung nach einer Privatisierung des Wassers weltweit viele Feinde gemacht. (Auch wenn er stets betont, dass der Grundbedarf an Wasser gratis bleiben soll.)
Ein Ernährungsbuch von Brabeck ist somit so, als würde ein Metzger ein veganes Kochbuch verfassen. Beim Leser herrscht zunächst ein hohes Mass an Misstrauen vor. Ist es auch berechtigt?
Die alte Vorstellung, wonach Nahrungsmittel-Multis mit einer Überdosis an Zucker, Salz und Fett Convenience- und Fastfood herstellen, und die Menschen mit Tricks wie übergrossen Flaschen und Tellern dazu verführen, mehr zu konsumieren, als ihnen bekömmlich ist, wird von Brabeck über Bord geworfen. «Hinsichtlich der Ernährung stehen wir heute vor einem ‹Reset›, denn sie hat im Rahmen der gesundheitsorientierten Personalisierung und der Ressourcenschonung einen vollkommen neuen Bezug zur Gesundheit bekommen», stellt Brabeck fest.
Nicht mehr die Anzahl von Pizzas und Burger, die der Konsument verdrückt, sind entscheidend für den Erfolg von Nestlé & Co. Es geht künftig darum, ob eine Mahlzeit die Menschen gesünder macht oder nicht. Auf diesem Wellnessmarkt werden heute schon jährlich rund 700 Milliarden Franken umgesetzt, und auf diesen Markt setzt Brabeck:
Rund 5000 Wissenschaftler tüfteln in Nestlé-Labors an Lebensmitteln, die uns nicht nur satt, sondern auch gesund machen. Das ist ein sehr komplexes Unterfangen, denn Nahrung ist nicht gleich Nahrung. Was sie in unserem Körper bewirkt, hängt von unseren Genen, unserer Umwelt und unseren Lebensgewohnheiten ab.
Nestlé will dieses Rätsel mit Hilfe der «Nutrigenomik» lösen. «Diese relativ junge Disziplin untersucht die spezifischen Wechselwirkungen zwischen unserer Nahrung und dem auf unseren jeweiligen Genen basierenden Stoffwechsel», klärt uns Brabeck auf.
Eine gesunde Ernährung an sich existiert gemäss Brabeck nicht. «Das gilt auch für die oft angepriesene Mittelmeerdiät, nach der schon allein der Verzehr von Olivenöl und von viel Obst und Gemüse in jedem Fall zur Lebensverlängerung beitragen kann.»
Stattdessen führt der Weg über die Auswertung der individuellen Daten. «In Zukunft werden die Life Sciences in der Lage sein, durch Gentests Menschen nach bestimmten genetischen Merkmalen in Gruppen einzuteilen», so Brabeck. «Wir befinden uns also auf dem Weg zu einer personalisierten Ernährung.»
Dem Darm kommt in der Ernährung eine ganz besondere Rolle zu. Rund 100 Billionen Kleinstlebewesen bevölkern den Verdauungstrakt eines Menschen. Sie haben einen viel grösseren Einfluss, als bisher vermutet. Brabeck geht so weit, dass er glaubt, dass die Mikroben in der Lage sind, unser Essverhalten zu steuern und nicht umgekehrt. «Wenn die ungünstigen Mikroben es erst einmal geschafft haben, die Oberhand zu gewinnen, wird der Mensch nicht mehr in der Lage sein, sein Essverhalten selbst zu kontrollieren», warnt Brabeck.
Eine berühmte Studie bei amerikanischen Nonnen hat Ende der Neunzigerjahre nachgewiesen, dass ein regelmässiger Tagesablauf einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob Menschen gesund alt werden oder nicht. Von einem solchen Lebensstil sind wir weit entfernt. «35 Prozent der Gesamtbevölkerung und 41 Prozent der Berufstätigen haben kontinuierlich oder häufiger einen unregelmässigen Tagesablauf», stellt Brabeck fest. «Bei den 20- bis 29-Jährigen liegt der Prozentsatz sogar bei 52 Prozent.»
Eine grosse Herausforderung der Nahrungsmittelindustrie liegt darin, diesen ungesunden Lebensstil mit gesunder Nahrung zu kombinieren. Keine einfache Aufgabe: Eine Nestlé-Studie hat ermittelt, «dass 56 Prozent der Berufstätigen es teilweise nur an den Wochenenden schaffen, sich so zu ernähren, wie sie es eigentlich wünschen und für vernünftig halten».
Peter Brabeck war nie ein Freund von Bio, er hält sie für Folklore. Daran hat sich nichts geändert. «Industriell hergestellte Nahrungsmittel werden im Rahmen der personalisierten Ernährung für spezielle Bevölkerungsgruppen deutliche gesundheitliche Vorteile gegenüber einfachen und scheinbar ‹naturbelassenen› Lebensmittel bieten», stellt er fest.
Mit personalisierter Nahrung und Big Data sollte es jedoch gemäss Brabeck gelingen, Alzheimer, Depressionen, Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme und Übergewicht zu überwinden. Voraussetzung ist allerdings, dass die Menschen mitmachen.
«Die eigentliche Herausforderung besteht darin, diese Daten zu nutzen, um zum Beispiel über einen tragbaren Sensor zu erfassen, wie viele Kalorien im Tagesverlauf verbraucht wurden, und anschliessend die nächste Mahlzeit so zu planen, dass sie genau diese Kalorien und Nährstoffe wieder zuführt – und nicht mehr», stellt Brabeck abschliessend fest.
Das wäre dann wohl gesund – aber ist es auch erstrebenswert?