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Hinter den erschütternden Bildern, die wir täglich sehen, steckt ein gemeinsames Muster: Alle Flüchtlinge kommen aus gescheiterten Staaten, die auf dem Weg zur Entwicklung irgendwo in Massenarmut, sozialer Zerrüttung und Perspektivlosigkeit stecken geblieben sind. Und das ist nicht erstaunlich, denn Entwicklung war schon immer ein schwieriger Prozess, und das gilt heute erst recht.
Schauen wir uns das Problem zunächst grundsätzlich an: Der aktuelle Stand der Technik erlaubt bei einer bei uns üblichen 40-Stundenwoche einen Lebensstandard von 100 Punkten. Das Entwicklungsland Y startet vielleicht bei einer 60-Stundenwoche, mit der es aber nur einen Lebensstandard von 20 Punkten erreicht. Damit ist gerade mal der Grundbedarf an Ernährung und Wohnen bei den meisten Beschäftigten knapp gedeckt. 80 Prozent der Beschäftigung konzentriert sich auf diese Sektoren.
Entwicklung erfordert zunächst die Übernahme der modernen Produktionstechnologien. Das ist schon schwierig genug. Zudem muss das Land aber auch selber entsprechend mehr konsumieren, denn nur mit dem Export von Waren kann es nicht überleben. Das setzt voraus, dass nicht nur die Kaufkraft sondern auch die Konsumlust der Massen in etwa mit der Produktivität steigt.
Dieser Gleichschritt von Produktivität und Massenkaufkraft stellt sich aber keineswegs durch die Marktkräfte automatisch ein, sondern muss erkämpft und ständig erhalten werden.
Diese Erkenntnis ist zumindest für Wirtschaftshistoriker nicht neu. Sie kommen alle zu ähnlichen Schlüssen: Wirtschaftliches Gedeihen setzt ein ungefähres Gleichgewicht der Kräfte, Vertrauenskapital, Rechtsstaat und «inklusive Institutionen» voraus
(siehe Box).Wir früh entwickelten Westler verdanken unseren Wohlstand der Tatsache, dass sich das Industrieproletariat organisiert und inklusive Institutionen erstritten und damit die Marktwirtschaft «sozialisiert» hat. Gleichzeitig wurden damit nach und nach auch Absatzmärkte für Textilien, grössere, beheizte Wohnungen, Autos, Unterhaltungselektronik, Tourismus usw. geschaffen.
Für die Länder, die jetzt erst aufholen sollten, ist die Ausgangslage aus zwei Gründen viel schwieriger: Erstens müssen sich ihre neuen Industrien gegen die Konkurrenz der Platzherren im reichen Westen und in China bewähren. Das ist auch mit tiefen Löhnen kaum zu schaffen. Zwar sieht es so aus, als würden ständig Industriejobs aus dem Norden Europas in Entwicklungsländer ausgelagert. Das trifft zwar im Einzelfall zu, nicht aber per Saldo.
Wie der Entwicklungsökonom Dani Rodrik in seiner Studie «premature deindustrialisation in the developing world» festgestellt hat, rationalisieren zwar auch die klassischen Industrieländer Industriejobs weg. Sie bauen aber gleichzeitig ihre Position als Nettoexporteure weiter aus. Die Entwicklungsländer werden deindustrialisiert, noch bevor sie eine namhafte eigene Industrie aufbauen konnten.
Rodrik geht es aber nicht nur um Jobs, sondern auch um Institutionen: Ohne Industrialisierung und die entsprechenden Grossunternehmen sei es für die «Nicht-Eliten» der Entwicklungsländer praktisch unmöglich, eine Klassensolidarität zu entwickeln, sich in Gewerkschaften und Parteien zu organisieren und so eine demokratische Kultur und inklusive Institutionen zu entwickeln.
Stattdessen dominieren ethnische und religiöse Gegensätze, was der Elite erlaubt, ihre Interessen nach dem Prinzip von «Teilen und Herrschen» durchzusetzen – und dabei Bürgerkriege zu riskieren und zuzulassen.
Die heutigen Entwicklungsländer kämpfen aber noch mit einem zweiten, noch wichtigeren Handicap: Sie sind auf ein straff organisiertes globales Finanzsystem angewiesen. Dessen Türsteher, der Internationale Währungsfonds (IWF), macht Kredite davon abhängig, dass das Schuldnerland Institutionen schafft, mit denen die Investoren notfalls ihre Rechte durchsetzen können. Dazu zählen Patent- und Markenrechte, die die Entwicklungsländer akzeptieren müssen.
Während die Schweizer Uhren-, Pharma oder Textilindustrie in ihrer Gründerzeit noch schamlos fremdes Know-how abkupfern konnte, müssen die neuen Entwicklungsländer Patent- und Markenrechte anerkennen. Sie müssen sich ausländischen Schiedsgerichten unterwerfen, und sie dürfen Importe nicht behindern. Nicht zuletzt müssen sie ihr Arbeitsrecht so «flexibilisieren», dass keine Gewerkschaft den Investoren gewinnschmälernde Lohnerhöhungen abtrotzen kann.
Man kann das auch so formulieren: Das Finanzkapital, bzw. der IWF zwingen die Entwicklungsländer, inklusive Institutionen abzubauen oder gar nicht erst entstehen zu lassen. Stattdessen müssen sie extraktive oder ausbeuterische Institutionen errichten.
Dass auf diese Art statt Wohlstand bloss Elend geschaffen wird, hätte man schon aus der eigenen Geschichte lernen können. Jetzt können wir bloss noch darauf hoffen, dass uns wenigstens der Ansturm der Flüchtlinge die Augen öffnet und zum Umdenken zwingt.