Es war ein Schock, als es die Schweiz vor einem Jahr bemerkte: Deutschland hatte die tiefere Arbeitslosigkeit. Das hatte es wohl überhaupt noch nicht gegeben seit dem Zweiten Weltkrieg. Doch es wurde nicht besser. Der deutsche Vorsprung nahm zu. Heute steht die Erwerbslosenquote in der Schweiz bei 5.3 Prozent, in Deutschland bei 4.2 Prozent. Die Schweiz hätte 46'000 Erwerbslose weniger, wäre ihr Arbeitsmarkt so fit wie der deutsche.
Bislang von der Öffentlichkeit unbemerkt, wurde die Schweiz gleich nochmals von Deutschland abgehängt. Die deutschen Löhne wuchsen deutlich schneller als in der Schweiz, in den Jahren 2014, 2015 und 2016. Jedes Mal um rund einen Prozentpunkt. Und das real. Das heisst: Es hat den Schweizern nicht geholfen, dass die Preise infolge des starken Frankens leicht gefallen sind. Deutschland hatte mehr Inflation – und hat es dennoch besser. Das zeigt eine Auswertung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB).
Und noch woanders haben die Deutschen einen Vorsprung: beim Wirtschaftswachstum. Insbesondere gemessen am Bruttoinlandprodukt pro Kopf haben sie die Schweiz stehen lassen. Ab 2010 ist dieses um insgesamt rund 5 Prozent schneller gewachsen. Und auch das tut der Schweiz weh. Jeder Schweizer Einwohner hätte heute um rund 4000 Franken mehr Einkommen jährlich, hätte es hierzulande Wachstum wie in Deutschland gegeben. Die Schweiz als Ganzes 30 Milliarden Franken mehr.
SGB-Chefökonom Daniel Lampart sagt: «Viele wollen es nicht wahrhaben. Aber Deutschland zeigt, was in der Schweiz möglich wäre, wenn der Franken nicht so überbewertet wäre.» Es sei nicht zu bestreiten, dass vor allem der starke Franken die Schweiz bremse. «Alle Indikatoren zeigen das. Es ist auch nichts anderes zu erwarten. Wir haben eine kleine, offene Wirtschaft. Wir sind stark eingebunden in die europäische Wirtschaft. Der Frankenkurs zum Euro ist matchentscheidend.»
Gerade der Lohnvergleich müsse zu denken geben, sagt Lampart. «Er zeigt: Die Frankenüberbewertung rechnet sich nicht für die Menschen in der Schweiz.» Die Rechnung geht laut Lampart so: Durch den starken Franken gehen viele Stellen verloren, die Erwerbslosigkeit steigt. Das spricht gegen den starken Franken. Doch dafür, so die Befürworter der Frankenstärke, sinken in der Schweiz die Preise, die Menschen können sich für ihr Geld mehr kaufen. Nun sagt Lampart: «Dieses Argument sticht nicht, der Vergleich mit Deutschland zeigt es.» Die Lohnentwicklung in der Schweiz sei nicht so bestechend, wenn man sich das Wachstum in Deutschland anschaue.
Nicht nur im Vergleich zu Deutschland. Auch sonst ist es bedenklich, wie sich das Bruttoinlandprodukt pro Kopf entwickelt hat. Es stagniert bereits seit 2008 weitestgehend, das mittlere jährliche Wachstum lag bloss bei 0.07 Prozent. Das sind acht Jahre des Stillstandes. «Damit durchlebt die Schweiz eine gleich lange Phase der Stagnation wie in den Neunzigerjahren», sagt Lampart. Eine längere Stagnationsphase gab es seit 1950 nicht. In den Neunzigern musste sich die Schweiz von einem Immobiliencrash erholen. Selbst da wuchs das BIP pro Kopf noch etwas schneller, um 0.13 Prozent.
In der Schweiz hat man es nicht mehr ganz so gut, in Deutschland hingegen ist es wieder besser. Das belegen auch die Zahlen zur Zuwanderung. «Die Zuwanderung aus Deutschland hat sich abgeschwächt, die Abwanderung hat zugenommen», sagt Michael Siegenthaler, Arbeitsmarktexperte der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH. Dieser Trend sei klar beeinflusst durch die gute Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt.
Es ist zwar so: Die Löhne in der Schweiz sind noch immer deutlich höher als in Deutschland. Aber das ist nicht allein entscheidend. «Wichtig ist für die Menschen auch, welche Aussichten sie in ihrer Heimat haben», sagt Siegenthaler. An Auswanderung werde erst gedacht, wenn es nicht genügend gute Jobs gebe, die Chancen auf höhere Löhne schlecht seien, oder der Arbeitsplatz unsicher scheine. Schliesslich würden die meisten Menschen lieber in ihrer Heimat bleiben.
«Eine Auswanderung kommt für viele erst infrage, wenn die Aussichten in der Heimat schlecht sind. Dann schaut man sich um, ob es irgendwo besser ist.» Dann kämen viele Deutsche auf die Schweiz. Die Löhne würden als traumhaft hoch erscheinen.
Doch ganz so traumhaft war diese Schweiz ohnehin nicht. «Der tatsächliche Unterschied wurde oftmals überschätzt», sagt Siegenthaler. So werde oft übersehen: In Deutschland sind die Steuern bereits vom Lohn abgezogen, in der Schweiz hingegen nicht. Das Leben in der Schweiz ist generell teurer. Familien müssen viel mehr ausgeben, um ihre Kinder betreuen zu lassen. «Der tatsächliche Kaufkraftunterschied der Löhne gegenüber Süddeutschland dürfte nur etwa 15 bis 25 Prozent betragen», sagt Siegenthaler.
Um die Perspektive geht es. Das bestätigen auch die Erfahrungen von Matthias Estermann, Präsident des Vereins für Deutsche in der Schweiz. «Die meisten deutschen Zuwanderer hatten genug von der Merkel-regierten Welt.» Das Gesparte sei nicht mehr sicher, das Rentensystem wackle, ohnehin seien die Renten mickrig. «Das höhere Lohnniveau in der Schweiz war da für die meisten zweitrangig.»