Beispiel Pharmaindustrie: Dank den bilateralen Verträgen können Novartis, Roche & Co. heute ihre Medikamente in einem EU-Land zertifizieren lassen, dann gilt die Zulassung automatisch in allen 28 EU-Ländern.
Die Beispiele lassen sich fast beliebig vermehren: Die Schweizer Stromwirtschaft braucht ein Abkommen mit Europa, ebenso wäre für den Banken- und Versicherungsplatz Schweiz ein Finanzabkommen sehr hilfreich. «Für die Schweizer Wirtschaft sind die bilateralen Verträge von grösster Bedeutung», erklärt daher UBS-Chefökonom Daniel Kalt.
Gelingt es aber nicht, eine Einigung darüber zu finden, wie die Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) umgesetzt werden soll, dann sind die bilateralen Verträge in höchster Gefahr. Die so genannten Guillotine-Klausel erlaubt es nämlich, sämtliche Verträge für ungültig zu erklären, wenn ein Teil davon verletzt wird. Beharrt die Schweiz auf einer Kontingentslösung, dann verletzt sie das Prinzip der Personenfreizügigkeit und erlaubt es der EU damit, die bilateralen Verträge insgesamt als ungültig zu erklären.
Die MEI schreibt dem Bundesrat vor, dass er die Ziele der Initiative innerhalb von drei Jahren umsetzen muss. Konkret soll dies wie folgt geschehen: Noch vor Weihnachten will der Bundesrat ein Umsetzungsgesetz in die Vernehmlassung schicken. Im Frühherbst 2015 soll dann die Botschaft zum Gesetzesentwurf folgen und im Parlament darüber abgestimmt werden. Weil ein Referendum sehr wahrscheinlich ist, muss letztlich auch noch das Volk über dieses Umsetzungsgesetz entscheiden.
Schon der innenpolitische Marathon ist kaum zu bewältigen. Aussenpolitisch ist es geradezu hoffnungslos. Der Zeitplan sieht wie folgt aus: Bis Ende April 2015 müsste die Schweiz eine neue Lösung in der Sache der Personenfreizügigkeit (PFZ) mit Brüssel ausgehandelt haben.
Diese Lösung müsste bis 2017 von allen EU-Staaten ratifiziert werden. Das ist sehr unwahrscheinlich: Die EU hat wenig Lust, der Schweiz eine Sonderlösung zuzugestehen, weil damit sofort Begehrlichkeiten geweckt würden, von Grossbritannien, beispielsweise. Zudem kann man davon ausgehen, dass Länder wie Griechenland, Lettland oder Ungarn derzeit andere Probleme wälzen als eine neues PFZ-Abkommen mit der Schweiz auszujassen. Der Zeitplan hat daher sehr theoretischen Charakter. Bisher hat sich die EU noch nicht einmal bereit erklärt, überhaupt zu verhandeln.
Was aber, wenn die MEI bis im März 2017 nicht umgesetzt wird? «Der Bundesrat kann dazu eine Verordnung erlassen», erklärt Daniel Kalt. Damit steckt er in der Zwickmühle: Entweder verzichtet er auf eine Kontingentlösung – und zieht den Zorn der SVP auf sich, die umgehend mit neuen Initiativen drohen würde. Oder er bietet der EU die Möglichkeit, die bilateralen Verträge aufzukündigen – und setzt damit das Wohl der Schweizer Wirtschaft aufs Spiel.
Eine einvernehmliche Lösung ist unwahrscheinlich, der Zeitplan nicht einzuhalten. Wie kann sich der Bundesrat aus dieser misslichen Lage befreien? Eigentlich gar nicht. Die wahrscheinlichste Lösung sieht Daniel Kalt in folgendem Szenario: Der Bundesrat setzt eine Kontingentlösung im Sinne der MEI per Verordnung durch – und hofft auf höhere Mächte: «Der Bundesrat muss hoffen, dass die EU beide Augen zudrücken wird und er weiter wursteln kann», sagt Kalt.
Die Tatsache, dass Europa sich möglicherweise auf eine lange Phase der wirtschaftlichen Stagnation hinbewegt, macht die Sache nicht leichter. «Europa ist im Begriff, die Fehler von Japan zu wiederholen», befürchtet Kalt. Japan hat es unterlassen, nach dem Platzen einer riesigen Immobilien- und Aktienblase der Wirtschaft mit billigen Geldern der Zentralbank wieder auf die Beine zu helfen. Das Resultat waren sinkende Preise (Deflation) und steigende Defizite. Inzwischen betragen die japanischen Staatsschulden 230 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
In Europa zeichnet sich ein ähnliches Szenario ab. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ein Inflationsziel von zwei Prozent festgelegt. Einzelne Länder wie Spanien und Italien verzeichnen jedoch bereits sinkende Preise. Die durchschnittliche Teuerung in Euroland ist auf 0,4 Prozent gesunken – und sie sinkt weiter. Es droht eine tödliche Deflationsspirale, will heissen: Die Staatsschulden drücken immer schwerer, weil das geschuldete Geld mehr wert wird.
Umgekehrt wird der Spielraum für die Ankurbelung der Wirtschaft immer kleiner. Deflation plus schrumpfende Wirtschaft – das ist das Albtraumszenario, das jedoch für weite Teile von Europa immer wahrscheinlicher wird.
In den USA hat die Wirtschaft inzwischen wieder auf einen Wachstumspfad gefunden. Ermöglicht hat dies die Geldpolitik der Notenbank. Fed-Präsident Ben Bernanke hat nach der Krise drei Mal ein so genanntes Quantitatives Easing (QE) durchgeführt, will heissen: die Wirtschaft mit billigem Geld versorgt. Auch seine Nachfolgerin Janet Yellen hat diese Geldpolitik durchgezogen, auch gegen den Widerstand konservativer Kreise.
Das zahlt sich nun aus. Die Arbeitslosenquote ist von über neun auf unter sechs Prozent gesunken. «Der Aufschwung der US-Wirtschaft ist nachhaltig», stellt Kalt fest. In Europa hingegen hat die EZB die Zinsen zwar ebenfalls gegen Null gesenkt, die Geldmenge jedoch viel weniger stark ausgeweitet.
Weshalb wird der japanische Fehler wiederholt? Die Hände des EZB-Präsidenten Mario Draghi sind gebunden. Ein QE nach amerikanischem Vorbild würde gegen die Maastricht-Verträge verstossen; und Deutschland wehrt sich mit Händen und Füssen gegen ein QE nach US-Vorbild. Angesichts der sich abzeichnenden deflationären Stagnation muss die EZB jedoch etwas tun. «Draghi muss nachlegen», sagt Kalt. Fragt sich bloss: Was?