Die Schweiz erlebte in den 1990er Jahren eine lange wirtschaftliche Krise. Könnte die Aufhebung des Euro-Mindestkurses zu einer ähnlichen Entwicklung führen?
Tobias Straumann: Ich halte drei Szenarien für möglich. Im positiven pendelt sich der Eurokurs bei 1.10 Franken ein. Dann hätte die Nationalbank alles richtig gemacht. Im mittleren Szenario schwankt der Kurs zwischen 1 und 1.10 Franken. Die Folgen wären heftig, es gäbe mehr Arbeitslose, aber die Schweiz könnte sie einigermassen bewältigen.
Und das schlechteste Szenario?
Der Eurokurs bleibt anhaltend tief. Dann könnte es zu einem Zweitrundeneffekt kommen, mit einer Rezession und fallenden Preisen. Wie stark dieser ausfallen würde, weiss ich nicht, aber im schlimmsten Fall wird die Wirtschaft so stark abgebremst, dass die Arbeitslosigkeit deutlich zunimmt. Viele könnten ihre Hypothekarkredite nicht mehr bezahlen. Es käme zu einer Immobilienkrise und möglicherweise einer gefährlichen Deflation mit anhaltendem Druck auf die Preise. Dann drohen jahrelange Stagnation und Nullwachstum, wie in den 1990er Jahren.
Sie haben vor diesem Worst-Case-Szenario bereits im Dezember gewarnt.
Es war mein Argument für die Beibehaltung des Mindestkurses. Die Nationalbank ist mit der Aufhebung ein gewaltiges Risiko eingegangen. Der Druck aus der Eurozone ist immer noch gross, dort haben wir inzwischen eine negative Inflation.
Die Nationalbank und ihr damaliger Präsident Markus Lusser spielten schon in den 1990er Jahren ein Schlüsselrolle. Man warf ihm vor, die Krise verursacht zu haben.
Zu Beginn des Jahrzehnts lief alles aus dem Ruder, vor allem die Inflation. Die Nationalbank musste reagieren. Man kann ihr aber vorwerfen, dass ihre Geldpolitik zu lange restriktiv war. Damals hätte sie Spielraum gehabt, die Zinsen lagen bei etwa vier Prozent. Heute ist das nicht mehr der Fall, wir haben bereits Nullzinsen und eine negative Teuerung. Nur auf den Wechselkurs könnte sie noch einwirken, doch sie müsste viel mehr einsetzen als mit dem Mindestkurs.
Die Krise der 90er Jahre war nicht nur konjunkturell, sondern auch strukturell. Ist die Wirtschaft heute in einer besseren Verfassung?
Gesamtwirtschaftlich ist die Situation nicht optimal. Aber die Exportfirmen sind eindeutig besser aufgestellt, sie haben Fortschritte gemacht. Die Krise in der Maschinenindustrie begann bereits in den 80er Jahren. Sulzer geriet in Schwierigkeiten, die BBC fusionierte mit der schwedischen Asea zur ABB. Man glaubte damals, die notwendigen Restrukturierungen aufschieben zu können. Mit der Krise kam das böse Erwachen.
Was halten Sie von dem Szenario, wonach die lockerere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) und der tiefe Ölpreis die Wirtschaft in der Eurozone ankurbeln könnten?
Ich bin mir nicht sicher. Die Eurokrise ist nicht bewältigt, die politische Unterstützung für die nötigen Reformen bricht wegen der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit zunehmend weg. Trotzdem könnte es dank dem tiefen Ölpreis eine Entspannungsphase geben. Das Quantitative Easing der EZB dagegen ist kein ideales Programm, es überlasst die geplanten Ankäufe von Staatsanleihen den nationalen Notenbanken. Eine Vergemeinschaftung findet nach wie vor nicht statt.
Falls es zu einem Aufschwung kommt, würde auch die Schweiz profitieren.
Er würde uns wahnsinnig helfen und zu einer gewissen Entlastung führen. In Verbindung mit längeren Arbeitszeiten könnte er die Folgen des Mindestkurs-Schocks ein wenig auffangen.
Es gibt auch positive Aspekte wie günstige Energiepreise, günstiger Import von Rohstoffen, Produktionsmitteln und Konsumgütern.