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Die Frau ist irrsinnig reich. Eine Tochter des Stahlbarons Heinrich Thyssen-Bornemisza. Genau wie ihr Vater hat sie einen ungarischen Adelstitel geheiratet. Sie heisst Gräfin Margit von Batthyany. Sie jagt gerne, am liebsten in Afrika, sie züchtet erfolgreich Rennpferde, im Winter liebt sie St. Moritz. Sie gilt als ehrgeizig und machtgeil. Im österreichischen Rechnitz steht das Schloss der Batthyanys, dort beherbergt Gräfin Margit im Zweiten Weltkrieg erholungsbedürftige Mitglieder der Waffen-SS und hat Affären mit ranghohen Nazis.
Einen Monat vor Hitlers Selbstmord, als allen klar ist, dass der Krieg verloren ist, kommt es in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 zum Massaker von Rechnitz: Partygräfin Margit veranstaltet ein grosses Fest, als am Bahnhof von Rechnitz 200 jüdische Zwangsarbeiter eintreffen, für die es keine Verwendung mehr gibt. Die lokale SA braucht Unterstützung, um die Juden möglichst effizient zu töten. Ein Anruf im Schloss genügt, mehrere Partygäste machen sich auf, die Juden haben inzwischen unweit des Schlosses ein Massengrab ausgehoben und ihre Kleider ausgezogen, 180 werden erschossen.
Die Gräfin tanzt und trinkt derweil und unterhält die Gäste. Sie unternimmt nichts gegen die Exekutionen. Später wird sie immer wieder mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht werden. Es wird sie nicht kümmern, denn nachweisen kann man ihr nichts, ein Schuldbewusstsein kennt sie nicht. Nach Kriegsende fliehen sie und ihr Mann Ivan vor der Roten Armee nach Lugano. Ihr Vermögen beträgt 31 Millionen Franken.
Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hat darüber 2008 ein Theaterstück geschrieben: «Rechnitz (Der Würgeengel)». Es ist eine klassische Jelinek: Obszön, übertrieben, eine Provokation. Ein paar ältere Herren mit dem Namen Batthyany schrieben in österreichischen Zeitungen, dass die Margit ja schon eine Schlimme gewesen sei, aber wirklich nicht so schlimm wie bei Jelinek, wo sie selbst zur Waffe greift und den Leichen die Brustkörbe eintritt. Jelinek hat aus der Gräfin Kunst gemacht.
Und jetzt kommt ein Zürcher Journalist und macht sie zu seinem Leben. Was für eine bittere, brutale Aufgabe. Und was für ein absurd grossartiges Buch! Der Titel: «Und was hat das mit mir zu tun?» Der Journalist heisst Batthyany. Sacha Batthyany. Margit von Batthyany ist seine Grosstante. Zum Glück fliesst Margits Blut nicht in seinen Adern. Zum Glück ist sie nur eine Angeheiratete.
Er beginnt, sich für seine Familiengeschichte zu interessieren, erzählt anderen davon, eines Tages fragt ihn der deutsche Schriftsteller Maxim Biller: «Und was hat das mit dir zu tun?» Sacha Batthyany weiss es nicht. Aber er will es wissen. Er beansprucht dazu zwei Wege: Die Recherche und die Psychoanalyse. Und was zuerst klingt wie das eitelste Unterfangen, seit der Mensch das Schreiben erfunden hat, macht sehr bald Sinn.
Denn während der Analytiker – ein Nachfahre von Holocaust-Überlebenden – Sachas Recherche-Ergebnissen lauscht, kommt er zum Schluss, dass Margit die einzige Verwandte sei, die Sacha «mit männlichen Attributen» verknüpfe, «mit Macht, Geld, Sex, Kraft und Gewalt». Das ist natürlich nicht, was Sacha hören will. Aber wahr. Denn die Männer der Familie sind Gebrochene.
Sacha Batthyanys Grossvater Feri ist Margits Schwager. Er lebt mit seiner Frau Maritta in Ungarn, wird an die Ostfront eingezogen und ungefähr zum Zeitpunkt des Massakers von Rechnitz von den Russen verhaftet. Es folgen: zehn Jahre in sibirischen Arbeitslagern, auch im berühmten Lager der Kleinstadt Asbest, wo Feri asbesthaltiges Gestein abbauen muss und seine Gesundheit ruiniert. Im Winter 1955 kommt er frei. Sein Sohn ist jetzt 14 Jahre alt. Maritta hat all die Jahre auf Feri gewartet.
1956, als Margit in Lugano die Hochzeit ihres Bruders mit einem britischen Supermodel feiert, fliehen Feri, Maritta und ihr Kind vor dem Ungarn-Aufstand in die Schweiz. Nach Lugano. Margit und Ivan nehmen sie vorübergehend bei sich auf, eher kühl. Sie interessieren sich mehr für die Côte d’Azur, Pferde und Champagner als für die total verarmten, gezeichneten Verwandten. Aber sie beschliessen, deren Kind eine gute Ausbildung zu bezahlen.
Das Kind ist Sacha Batthyanys Vater. Die Beziehung von Sacha zu seinem Vater ist durchaus innig, aber reden können die beiden miteinander nicht. Trotzdem reisen sie auf der Fährte des Grossvaters durch Russland, nach Sibirien, nähern sich einander mühselig und vorsichtig an. Der Vater schenkt Sacha die Kriegsaufzeichnungen von Grossmutter Maritta. Die ihrerseits einem Verbrechen auf die Spur gekommen ist, dem rätselhaften und unnötigen Tod eines jüdischen Bäcker-Ehepaars nämlich, dessen Tochter Agnes eine Freundin von Maritta war und das Grauen von Auschwitz überlebte.
Sacha sucht Agnes. Und findet sie mit ihren Kindern in Argentinien. Er trifft dort auf eine Familie, die sich im Gegensatz zu seiner eigenen immerzu und produktiv mit der Vergangenheit beschäftigt. Agnes’ Kinder übergeben ihm Agnes’ Tagebücher. Er macht eine Parallel-Montage aus den Aufzeichnungen von Maritta und Agnes. Von den beiden Seiten eines Krieges.
Er gelangt vom Skandal von Rechnitz, der an der Oberfläche seiner Familiengeschichte liegt, immer tiefer. Vom uneinsichtigen Monster Margit – einer Frau, die ihm aus Kindertagen als echsenartiges Geschöpf in Erinnerung geblieben ist – zu den Menschen Maritta, Agnes und Feri. Die einmal Freunde waren und dann vom Lauf der Geschichte unwiderruflich in Täter und Opfer gespalten wurden.
Sachas Grossmutter wird ein Leben lang von der Frage gequält, wieso sie sich nicht für Agnes und ihre Eltern eingesetzt hat. Ihre Schuld schreibt sie in den Tagebüchern nieder. Und der Enkel fragt sich: Wie hätte ich an ihrer Stelle gehandelt?
Er kommt zum niederschmetternden Schluss: Genau gleich. Genauso erbärmlich, verzagt und innerlich geduckt. Obwohl er sich während seines behaglichen Lebens in der Schweiz immer schon nach Grösse gesehnt hat. Vielleicht sogar nach einem kleinen Krieg. Im Zweifelsfall, das weiss er jetzt, wäre er kein Held. Das ist ingesamt frustrierend. Und in seiner historischen und analytischen Herleitung frustrierend klug.
Margit dagegen züchtet ganz vergnügt und unbelastet ihre Pferde weiter und stirbt 1989. Ihr Bruder heiratet ein weiteres Supermodel und wird mit seiner Kunstsammlung in der Villa Favorita am Lago di Lugano von Bundesräten geehrt, bevor er damit nach Madrid geht und dort das Museo Thyssen-Bornemisza eröffnet. Er stirbt 2002. Agnes hat beide überlebt. In Wien wird seit dem 1. Februar 2016 die Familiengruft der Batthyanys mit EU-Geldern restauriert. Es ist die zweitgrösste Gruft in Österreich neben der Kaisergruft.
Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 255 S., ca. 28 Fr.
Lesung von Sacha Batthyany am So, 13. März, 17 Uhr in der Helferei Zürich am «Tag des jüdischen Buches».