1983 bemerkte der Pfarrer des Städtchens Calcata in der Nähe von Rom, dass jemand im Pfarrhaus eingebrochen hatte. Nichts fehlte, ausser dem Wichtigsten: Aus dem Schrank hatte der unbekannte Täter eine Reliquie entwendet, die an Heiligkeit kaum zu überbieten war. Die Heilige Vorhaut war verschwunden.
Bis heute ist der göttliche Zipfel nicht wieder aufgetaucht. Manche Einwohner des Städtchens glauben, bei dem mysteriösen Verschwinden habe der Vatikan seine Hände im Spiel gehabt. Sie sind nicht die einzigen: Auch der amerikanische Journalist und Historiker David Farley fahndet nach dem Hautfetzen und verfolgt dabei Spuren, die nach Rom führen. Der Film «Die Suche nach der Heiligen Vorhaut», der seine Mission dokumentiert, wurde kürzlich auf «Arte» ausgestrahlt.
Befürchtete Rom zu Beginn der 80er Jahre vielleicht, der rasche Fortschritt der Genetik würde es schliesslich möglich machen, das Erbmaterial aus der Vorhaut zu isolieren? Hatte die Kurie Angst, irgendein Genetiker könnte mit der DNA Gottes üble Dinge tun? Am Ende womöglich Jesus klonen? Oder war dem Vatikan der Kult um die allerchristlichste Vorhaut schlicht zu peinlich geworden?
Doch wie kam die Vorhaut überhaupt nach Calcata? Und warum entstand solch ein Wirbel um dieses kleine Stück vom Penis des Erlösers?
Reliquien sind geronnene Heiligkeit – Objekte, in denen sich Spirituelles materialisiert, konkretisiert, konzentriert. Besonders die katholische Kirche hat den heiligen «Überbleibseln» – das ist die wörtliche Bedeutung des Begriffs – stets grosses Gewicht zugemessen.
Das reliquienversessene christliche Mittelalter verehrte eine ungeheure Vielzahl von Objekten; darunter solche, die uns heute eher befremden, wie die Windel Jesu oder die Muttermilch Mariens. Da versteht es sich von selbst, dass ein zurückgebliebener Körperteil des Heilandes selbst für grösste Verzückung sorgen musste.
Das Problem dabei: Jesus ist gemäss christlichem Glauben nach seinem Tod auferstanden und danach in den Himmel aufgefahren, und zwar mitsamt seinem Körper. Nur Teile des göttlichen Leibes, die vor der Himmelfahrt von ihm abgetrennt worden waren, konnten deshalb zu Reliquien werden.
Dazu zählen die Nabelschnur, abgeschnittene Haare, die Milchzähne und das bei der Passion vergossene Blut. Und – da Jesus Jude war – auch die Vorhaut, das Sanctum Praeputium. Wie jeder männliche Jude wurde Jesus, das bezeugt das Luka, acht Tage nach seiner Geburt beschnitten. s-Evang elium
Was geschah danach mit dem entfernten heiligen Zipfel? Die jüdische Tradition sieht vor, dass das kleine Stückchen Haut vergraben wird. Bei Jesus soll es aber, so behauptet das apokryphe «Evangelium der Kindheit», eine alte Frau an sich genommen und in ein mit kostbarem Öl gefülltes Alabastergefäss gelegt haben. Dergestalt überlebte das Sanctum Praeputium auf wundersame Weise.
Eine ganze Weile fehlt dann jede Spur von ihm, bis es um Weihnachten des Jahres 800 plötzlich wieder auftaucht. Die Legende will, dass Karl der Grosse die Reliquie anlässlich der Kaiserkrönung in Rom Papst Leo III. schenkte. Der fränkische Herrscher soll sie entweder bei einer Pilgerfahrt in Jerusalem von einem Engel oder – ein bisschen plausibler – als Geschenk der Kaiserin Irene von Byzanz erhalten haben.
Papst Leo III. versorgte den wertvollen Hautfetzen in seiner Reliquiensammlung, die sich in seiner Hauskapelle Sancta Sanctorum im Lateran befand. Dort schlummerte das Präputium jahrhundertelang vor sich hin, bis es – wiederum der Legende nach – 1527 während des Sacco di Roma, der Plünderung Roms, von einem deutschen Landsknecht gestohlen wurde. Dieser soll beim Rückzug nach Norden in Calcata gefangengenommen worden sein und seine wertvolle Beute in seiner Zelle vergraben haben, wo man sie 30 Jahre später fand.
Zuerst verlangte der Vatikan die Vorhaut zurück, doch schliesslich überliess Papst Sixtus V. dem Städtchen die profitable Reliquie. Calcata entwickelte sich zur Pilgerstätte, denn die Wallfahrt zur Vorhaut brachte den Gläubigen einen Sündenerlass von zehn Jahren im Fegefeuer ein.
Jedes Jahr am 1. Januar, an dem die Kirche der Beschneidung des Herrn (Circumcisio Domini) gedenkt, zog eine Prozession mit dem Sanctum Praeputium durch die Strassen des Ortes – bis 1983. In diesem Jahr teilte der Pfarrer den entgeisterten Gläubigen einen Tag vor dem Umzug mit, die Reliquie sei gestohlen worden.
Sofort machten Gerüchte über den Diebstahl die Runde: Hatte der Priester selber die Heilige Vorhaut entwendet, um sie auf dem Reliquien-Schwarzmarkt zu veräussern? Waren es Satanisten gewesen, die mit dem Zipfel Gottes unaussprechliche Dinge tun wollten? Oder war das Präputium, wie heute noch manche glauben, auf Geheiss des Vatikans verschwunden?
David Farley favorisiert letztere These, obwohl er sie nicht beweisen kann. Ihn irritiert, dass der Priester die wertvolle Reliquie angeblich auf Anordnung der Kurie in einer Schuhschachtel in seinem Schrank aufbewahrte. Doch die Spurensuche des Journalisten, die ihn auch nach Rom führt, ist nicht wirklich ergiebig: In den 51 Minuten, die der Dokumentarfilm dauert, erfahren wir viel über die Vorhaut, aber wenig über den Diebstahl. Auch Farley muss am Ende zugeben: Man weiss nicht, wo die gestohlene Vorhaut sich jetzt befindet.
Wahr ist wohl, dass der Kirche das Brimborium um Jesu Vorhaut im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend peinlich wurde. Warum hätte sonst die Oberste Heilige Kongregation im Jahr 1900 das Dekret erlassen sollen, in dem unter Androhung der Exkommunikation verboten wurde, ohne päpstliche Erlaubnis über das Sanctum Praeputium zu sprechen und zu schreiben?
Doch der Vatikan hätte die Reliquie in Calcata auch einfach zurückziehen können, ganz ohne Diebstahl oder verschwörerische Nacht-und-Nebel-Aktionen. Dies hat er auch bei anderen sonderbaren Reliquien schon getan. Und es bleibt die Frage, warum dann die Vorhaut in Calcata verschwinden musste, wo doch im französischen Conques eine andere aufbewahrt wird.
Dank einer wundersamen Vermehrung der Vorhäute gab es im mittelalterlichen Europa nämlich mindestens 14 Reliquien, von denen man behauptete, sie stammten vom allerchristlichsten Penis. Alle bis auf die von Conques gingen verloren. Vielleicht ist ja diese die echte?